Goldmacher (German Edition)
dem Tisch lag, und fotografierte den nicht zuletzt auch für seine Geschäftsfreunde posierenden Franz.
Erst blieb Anton noch auf seinem Stuhl sitzen, doch dann gab ihm Franz, nun angespornt und noch ein wenig mehr posierend, Gelegenheit zur Vergrößerung des Bildausschnitts. Anton stand auf und entfernte sich einige Schritte vom Tisch, hatte jetzt nicht nur Franz und Rosi im Bildausschnitt, sondern im Hintergrund schon den entsprechenden Nachbartisch. Dann sprang er, leichtfüßig wie ein professioneller Fotograf, ein wenig zur Seite, drückte mehrmals den Auslöser und verbeugte sich leicht vor Sissi. Er hatte durch das Kameraauge gesehen, wie sie ihm zugelächelt hatte, und dieses Lächeln festgehalten. Wenn sie lächelte, zeigten sich Grübchen in ihren Wangen und ihre Augen hellten sich auf. Gleich knipste er weiter, hielt alles das fest, bis der Film aufgebraucht war.
Rosi und Franz applaudierten der Sängerin. Anton entnahm der Kamera den Film, steckte ihn in seine Smokingtasche und legte die Minox zurück auf den Tisch.
Nun räumten Kellner das Buffet ab, sammelten die Dessertschalen ein, und die Musiker einer Band, die sich, wie auf ihrem Schlagzeug zu lesen war, The Rolling Potatoes nannte, trugen ihr Equipment auf die Bühne. Mit einem Elvis-Presley-Song legten sie los, nachdem sie ihre Instrumente gestimmt hatten. Die ohrenbetäubend laute Rock-’n’-Roll-Musik drang bis zu Paula. Sie brach augenblicklich ihr Gespräch mit der Toilettenfrau ab, kippte den Rest vom dritten Piccolo hinunter, den zweiten hatte sie mit der Toilettenfrau geteilt, und machte sich auf den Weg zurück in den Ballsaal.
Niemand am Tisch, auch nicht Anton, sah Paula zurückkommen, alle schauten und hörten den Musikern zu, einem Gitarristen, einem Schlagzeuger, einem Bassisten und einem Sänger. Alle vier trugen Anzüge und eine Schmalztolle und schwarzes Kajal um die Augen. Unterstützt wurden sie von dem Pianisten im Frack, der jetzt tollkühn in die Tasten griff. Im Saal hielten die Ballbesucher den Atem an, allein schon wegen der Lautstärke, die von der Bühne wie ein Unwetter über sie hereingebrochen war, manch einer steckte sich demonstrativ einen Finger links und rechts ins Ohr, doch alle blieben, wie gebannt, auf ihren Plätzen sitzen.
Im ersten Moment erkannte Franz die Frau nicht, die nach seiner Hand griff, seinen Arm packte und ihn mit geradezu männlicher Kraft hochriss: Paula hatte ihr lang gewachsenes Haar in eine Pferdeschwanzfrisur mit Lockenkringeln rund ums ovale Gesicht verwandelt, sich kräftige schwarze Augenbrauen gezogen und einen pinkfarbenen Mund gemalt, den Lippenstift hatte sie sich von der Toilettenfrau ausgeliehen. Von den Piccolos stimuliert, schrie sie auf vor Vergnügen, als Franz ihr nun auf die Tanzfläche folgte. Sie gehörte ihnen allein, denn niemand außer ihnen schien sich auf die leere Fläche zu wagen.
»Sie glauben, wir sind Professionelle«, rief Paula, »zeigen wir’s ihnen!«
Schon wirbelte, rutschte, flog Paula um Franzens Hüften, über seine Schulter, durch seine gespreizten Beine hindurch und immer wieder in seine Arme. Das hatte sie am Nachmittag noch mit ihm geübt.
Die Musiker steigerten sich in gleichem Maße wie das einzige Tanzpaar auf der Tanzfläche. Der Sänger und der Gitarrist traten nach vorn bis zur Rampe der Bühne und entlockten ihren Instrumenten ekstatische Töne, der eine seiner Gitarre, der andere seiner Kehle. Die ersten Pfiffe und Yeahs ließen sich aus dem Publikum hören, Ballbesucher an den hinteren Tischen standen auf, um Franz und Paulas furiosen Auftritt besser verfolgen zu können, und dann wagte sich ein erstes Tanzpaar an den Rand der Tanzfläche, ein zweites, ein drittes folgte, jedes Mal wurden sie, wie noch weitere Mutige, von den Rolling Potatoes mit einem dreifachen »Yeah« begrüßt. Dann jedoch, wie auf ein Zeichen, sprangen plötzlich überall im Saal die jüngeren Männer und Frauen von den Stühlen und stürmten ungeachtet ihrer Ballroben die Tanzfläche. Es war das erste Mal, dass in diesem Ballsaal amerikanischer Rock ’n’ Roll getanzt wurde.
Franz und Paula waren mittlerweile wie im Rausch, sie schienen, obwohl jetzt auf engem Raum tanzend, nie mehr aufhören zu wollen, so verschwitzt, so zerzaust, so außer Atem sie auch waren. Anton und Rosi verfolgten ihren Auftritt mit ganz unterschiedlichen Gefühlen. Rosi seufzte und lächelte abwechselnd über die kindliche Tobsucht, wie sie Franzens Akrobatik nannte, während Anton
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