Goldmacher (German Edition)
ungewohnten nächtlichen Exzess, früh aus dem Bett und in die Redaktion. Am späten Nachmittag verließ er sie, um seinen Friseur aufzusuchen, denn Vorbote dieses neuen Zeitalters sollte, einer alten Marotte folgend, eine neue Frisur sein.
»Du siehst ja fast aus wie ein Beatle!«, rief Veronika, als er vom Friseur nach Hause kam.
Hans Ulrich schaute prüfend in den Spiegel, er trug keinen Scheitel mehr, sein rötlich blondes Haar fiel in die Stirn. Am nächsten Morgen suchte er, bevor er in die Redaktion fuhr, noch einmal seinen Friseur auf und ließ nachschneiden. Im Anschluss an die große Konferenz diskutierten die Ressortleiter seinen neuen Haarschnitt dann als Anlehnung entweder an die Frisur von Julius Cäsar oder an die von Napoleon. Sie lägen nicht falsch, meinte Hans-Ulrich zufrieden, denn er würde für einen Feldzug rüsten, für die Eroberung neuer Leserkreise.
Insgesamt rüstete er zwei Wochen lang auf, er musste jedoch weitere zwei Wochen lang warten, bis er Anton in einem der tiefen schwarzen Ledersessel endlich gegenübersitzen konnte. Anton sei in Klausur, hatte Leni ihn unterrichtet.
»Du siehst verändert aus«, stellte Anton fest.
»Ich hatte das Bedürfnis, mit meinem neuen Haarschnitt mein neues Konzept, die neue Strategie, die ich dir jetzt vorschlagen werde, schon mal optisch auszudrücken«, Hans-Ulrich zögerte kurz, dann strich er mit der Hand vorsichtig vom Hinterkopf nach vorn über sein Haar. Er musste sich erst noch daran gewöhnen.
»Eine alte Marotte von mir, wie du weißt.«
Er erinnere sich an eine wohl sehr deutsche, dann an eine englische und später an eine amerikanische Frisur, zählte Anton auf, »und wie nennst du deinen neuen Haarschnitt?«, fragte er.
»Modern«, sagte Hans-Ulrich, dann holte er weit aus, referierte die vielen Jahre ihrer Zusammenarbeit, bei der er Anton stets zugearbeitet habe, was auch jetzt wieder sein Bedürfnis sei, denn dies sei eine Zeit des Wandels, hinter der das Blatt nicht zurückbleiben dürfe, um sich mit den Irrungen und Wirrungen einer kleinen radikalen Minderheit zu beschäftigen. Das Blatt müsse die große Mehrheit im Blick haben, sich an die große Mehrheit wenden, um nicht zu sagen an die Masse, kurz, das Blatt müsse modern sein. Daraufhin präsentierte Hans-Ulrich Zahlen und grafische Darstellungen, die in unterschiedlichen Farben auf Millimeterpapier eine neue Dekade eskortieren sollten, in der mit mehr U-Musik als E-Musik, mit mehr U-Beiträgen als E-Beiträgen, kurz, mit mehr Unterhaltung im Blatt noch größere Erfolge erzielt werden konnten.
Keineswegs flache, oberflächliche Unterhaltung, das gewiss nicht, versicherte Hans-Ulrich sofort, als er sah, wie Anton die Stirn runzelte. Doch nur mit mehr Unterhaltung könne man das außerordentliche Konfliktpotenzial der modernen Massengesellschaft eindämmen, ihm seine zwingende, freiheitsberaubende Gewalt nehmen und zivilisatorisch wirken, behauptete Hans-Ulrich nun kühn.
Anton blickte kurz auf und betrachtete dann noch einmal Hans-Ulrichs Darstellungen. Es entstand eine Stille.
»Ich kann dir das hier alles noch einmal erklären, wenn du willst«, sagte Hans-Ulrich schließlich.
»Ich glaube, das ist nicht nötig«, meinte Anton nun und wuchtete sich aus dem schwarzen Ledersessel. Über die Gegensprechanlage bat er Leni, Hans-Ulrich das Manuskript auszuhändigen, das im Safe verwahrt sei.
Es handele sich um eine Gruppenarbeit mehrerer Autoren, wandte sich Anton wieder Hans-Ulrich zu, eher eine wissenschaftliche als eine journalistische Arbeit. Er denke, nach einer redaktionellen Bearbeitung, die er selber übernehmen werde, an eine Veröffentlichung in drei Folgen.
»Lies bitte das Manuskript, danach besprechen wir alles Weitere.«
Hans-Ulrich, emotional noch im neuen Hacker’schen Zeitalter unterwegs, fuhr sich in gewohnter Weise durchs Haar, fluchte leise, ordnete die Frisur wieder und stand unwillig auf.
»Manches im Manuskript wird nicht ganz neu für dich sein«, sagte Anton.
»Aber das hier ist alles ganz neu, du könntest doch wenigstens mal piep sagen! Heiß oder kalt! Wie beim Ratespiel! Was ist los mit dir, Anton?!«
Für einen Moment schwankte Anton. Nein, er würde Hans-Ulrich jetzt nicht erzählen, dass er, nachdem in der Lokalzeitung das Foto von ihm vor dem Transparent erschienen war, von den Transparentträgern einen Brief erhalten und sich daraus ein Briefwechsel entwickelt hatte, in dessen Folge ihm ein Teil jenes Manuskripts, das nun inzwischen
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