Goldmacher (German Edition)
dem Elend.
»Du hältst den halb gefüllten Kelch für halb voll, ich halte ihn für halb leer«, schrieb Anton gerade auf eine Postkarte mit der Abbildung eines keltischen Kelchs, die er an Franz adressiert hatte, als das Telefon klingelte. Er nahm den Hörer ab und erkannte gleich ihre Stimme.
»Lange nichts gehört«, sagte sie.
»Eigentlich ist es doch erst eine Woche her«, erwiderte Anton.
»Kommt mir viel länger vor«, meinte sie und verstummte.
»Könnte es sein, dass Sie wegen Lexa anrufen?«
»Ja«, bestätigte Luzie, »ich bin gleich bei Ihnen, ich brauche Ihre Vermittlung.«
»Ich war gerade auf dem Weg aus dem Büro«, warf er ein.
»Oh, ich kann gleich da sein«, sagte sie, »bitte warten Sie einen Moment.« Sie legte auf.
Anton rief den Pförtner an und sagte, er erwarte Luzie Mayer. Seit dem Umzug in das größere Verlagshaus wachte jetzt im Erdgeschoss hinter einem Empfang ein Pförtner, und sein Büro war ein Reich mit einer breiten Glasfront, eigener Teeküche und Dusche.
Er ging in die Teeküche, nahm eine Flasche Mosel aus dem Eisschrank, entkorkte sie, nahm zwei Gläser, kehrte in sein Zimmer zurück, stellte Flasche und Gläser auf den Couchtisch, setzte sich in einen der Sessel und schenkte sich ein. Der Wein war keine Spätlese, im Vergleich zu französischen Weißweinen jedoch eher lieblich. Er war wieder zurückgekehrt zum Geschmack seiner Jugend.
Zunächst hatte er Luzie regelmäßig einmal im Monat im Austernkeller im Separee getroffen. Er wolle ihr gelehriger Schüler sein, hatte er ihr gesagt, nachdem er die Kassette mit Luzies zweiter Lektion über die Natur des Menschen gehört hatte. Sie hatte die Geschichte von Kain und Abel behandelt.
Die Bibel sei die ergiebigste Quelle, um die Mechanismen von Neid und Eifersucht zu studieren, hatte Luzie bei einem weiteren Treffen im Separee gesagt. Und deshalb sei die Bibel für sie als Werberin das Buch der Bücher geworden. Das mimetische Begehren, jener Impuls der menschlichen Natur, das, was der andere besitzt, auch besitzen zu wollen, worauf jede Werbestrategie aufbauen müsse, wäre nun einmal mit Neid und Eifersucht eng verbunden.
Fast hätte Anton den Finger gehoben, so wie er es als Schüler getan hatte, wenn er etwas fragen wollte. Luzie gefiel es nicht, in ihrem Redefluss unterbrochen zu werden.
»Ich hätte eine Frage«, unterbrach er sie dann aber doch, »was, bitte, ist das mimetische Begehren?«
»Habe ich Ihnen das nicht schon erklärt?«, hatte sie stirnrunzelnd gefragt. Sie bestand auf das Sie als Anrede. Es sei erotischer, solange man keinen Sex miteinander gehabt habe.
»Dann verstehen Sie ja gar nicht, worum es geht!«, hatte sie schließlich ausgerufen und ihn zweifelnd angesehen. Wie einen begriffsstutzigen Schüler.
»Dann hören Sie mal gut zu«, verlangte sie nun: »Ein Objekt wird von B begehrt, nur weil A es begehrt. Es ist das Begehren von A, das B begehrt, nicht das Objekt. Das nennt man mimetisches oder auch nachahmendes Begehren. Jetzt verstanden?« Sie lehnte sich wieder zurück.
Er hatte genickt, schließlich war er geübt im Beobachten dieser Art von Nachahmung, die als ewiger Kassenschlager auf allen politischen Bühnen der Welt gespielt wurde. Nur Luzies Begriff dafür, mimetisches Begehren, war ihm unbekannt gewesen.
»Zurück zu unserer Lektion«, hatte sie nun vorgeschlagen, und er war ihr gefolgt.
Es sei für sie bei jeder Werbung, bei jeder Werbekampagne immer wieder spannend, die Position von Gott, wie er sie in der Geschichte von Kain und Abel als Auslöser von Neid und Eifersucht einnehme, zu bestimmen. Wo ist Gott? Das würde sie sich bei jedem Werbekonzept zuerst fragen.
Ob sie denn mit ihren Kampagnen Brudermorde auslösen wolle, hatte er schülerhaft wissen wollen. Sie hatte gelächelt, so gütig wie der Gott der Werbung, den sie nun beschrieb. Denn anders als jener Gott, der Abel zum unerreichbaren Vorbild für Kain gemacht hatte, würde der Gott der Werbung Vorbilder schaffen, die jeder erreichen könne. Jeder könne das Produkt kaufen, auf das der wohlgefällige Blick des Gottes der Werbung gefallen sei. Im Prinzip.
»Ich würde sagen, wir initiieren nicht den Brudermord, im Gegenteil, wir verhindern ihn!«, hatte sie ausgerufen und heftig den Zigarettenrauch ausgestoßen, »wir machen aus potenziellen Brudermördern Konsumenten!«, hatte sie triumphiert.
»Wir Werber haben keinen besonders guten Ruf«, sagte sie daraufhin leise und wie im Vertrauen, »ich aber bin
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