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Goldmacher (German Edition)

Goldmacher (German Edition)

Titel: Goldmacher (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisela Stelly
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den Karton mit dem Schatz darin baumeln, während Anton auf der einzigen elektrischen Kochplatte, die sich in der provisorischen Kochnische befand, in einem Topf das Wasser aus dem Kanister, der unter dem Tischchen mit der Kochplatte stand, für den Tee zum Sieden brachte.
    Den ungewohnt starken Geschmack von Earl Grey milderten sie mit Zucker und Milch, angerührt aus dem Milchpulver, schlürften ihn dann genüsslich und langsam und knabberten dazu die Kekse.
    Leni erzählte von der Handelsschule, die sie besuchte und die in den Räumen eines teilweise nicht zerstörten Gymnasiums auch Kurse in Schreibmaschine, Stenografie und sogar in Englisch anbot. Sie wünschte sich sehr, eines Tages nach Amerika auszuwandern.
    »Die werden niemanden von uns haben wollen«, meinte Anton düster, dann hellte sich seine Miene auf »Besser, du besorgst dir hier eine Anstellung, am besten gleich bei mir«, schlug er vor und schaute sie erwartungsvoll an.
    »Bei dir? Meinst du das ernst?«, fragte Leni und lachte ein gurrendes, schnurrendes Lachen, in das sich Anton noch mehr verliebte, als er in Leni ohnehin schon verliebt war, er musste sie einfach küssen, immer wieder und noch einmal.
    Zwar arbeite er tagsüber für die Engländer, erklärte er ihr später, aber abends, auch nachts und vor allem an den Wochenenden schreibe er an seiner Chronik über den Untergang. Leni runzelte die Stirn, mit dem Untergang wolle sie nichts mehr zu tun haben, sagte sie, sah Antons enttäuschtes Gesicht und lachte wieder ihr gurrendes, schnurrendes Lachen.
    In diesem Sommer trafen sie sich fast täglich. Es war eine Art Obsession, die sie befallen hatte: Kaum war Leni bei Anton im Zimmer, rissen sich beide die Kleider vom Leib und zogen sie erst wieder an, wenn sie das Zimmer verließen.
    Sie dachten nicht darüber nach, beide schienen sich jedoch mit der Kleidung alle unsichtbaren Maskierungen vom Leib reißen zu wollen, die jahrelang zur täglichen Tarnung und Anpassung gehört hatten. Sie empfanden ihr oft stundenlanges Nacktsein als Akt der Befreiung, den sie jedes Mal, wenn sie zusammen waren, wiederholen mussten. Er befreite sie wohl von den Täuschungen, den falschen Bildern, den manipulierten Scheinwelten, in denen sie gelebt hatten, die ihnen vorgegaukelt oder aufgezwungen worden waren. Die alle zusammengebrochen waren angesichts einer Wirklichkeit, die unfassbar war. Ihre Nacktheit, die war wirklich. Fassbar. Eine lebendige Wirklichkeit, die ihnen gehörte. Jahrelang hatten ihre Körper nicht ihnen gehört, waren Verfügungsmasse gewesen, jetzt konnten sie gar nicht genug davon bekommen, über sich selbst zu bestimmen. Sie liebten sich und blieben nackt, ob sie nun etwas aßen oder Earl Grey mit Zucker und Milchpulver tranken, Anton an seiner neu erworbenen alten Schreibmaschine tippte oder Leni Hausaufgaben machte.
    In all den Wochen dieses Sommers wurden sie ihrer Nacktheit niemals überdrüssig. Im Gegenteil, sie fühlten sich immer lebendiger, es war, als hätte das Leben in ihren Körpern lange Zeit den Atem angehalten. Denn die Nacktheit, die sie bisher am häufigsten gesehen hatten, war die von Toten.
    In diesem Sommer mit Leni verschob Anton die Arbeit an seiner Chronik häufig auf die Nacht. Tagsüber konnte er dann oft kaum die Augen offen halten. Wie bisher übertrug er für Officer Simon englische Zeitungsartikel für deutsche Leser ins Deutsche und Officer Simon kritisierte nach wie vor in Abständen persönlich seine Übertragungen. Selbst während dieser eher kurzen Besprechungen konnte Anton häufig nur mit Mühe ein Gähnen unterdrücken. Eines Tages gestand er dem Officer die nächtliche Arbeit an seiner Chronik, der er den Titel » Vom Untergang des Volkes der Dichter und Denker« geben würde.
    Der Officer hob nur die Augenbrauen. Anton rätselte, ob erstaunt, verwundert, überrascht oder interessiert. Kurz darauf jedoch sprach er zum ersten Mal über sich selber und erzählte Anton, wie er seinen Vater, der im Berliner Theaterleben zu Hause gewesen war, manchmal hatte begleiten dürfen und wie er dann im Kreise all dieser Theaterleute, wenn es spät wurde, eingeschlafen war, und dass diese Ausflüge in das Theaterleben die schönsten Erinnerungen an seine Kindheit wären. Dann sah ihn der Officer mit nachdenklichem Blick an und wünschte ihm Gelingen bei seinem Vorhaben.
    »Schade«, sagte er zum Schluss wie schon einmal vor ein paar Monaten, als er die beiden Seiten von Antons Prüfung in Schreibmaschine und

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