Goldrausch in Bozen - Kriminalroman
sie die Besucher, deren Augen sich an die Dunkelheit unter ihnen zu gewöhnen versuchten. Wie oft hatte sie deren Reaktionen schon erlebt, und doch war es ihr jedes Mal aufs Neue ein Erlebnis. Normalerweise ging das gespannte Schweigen in fasziniertes Gemurmel über, bevor sie schließlich mit Fragen überhäuft wurde.
Doch statt des erwarteten Gemurmels gab es heute nur vor Entsetzen aufgerissene Augen. Die Gruppe war offensichtlich besonders betroffen. Für Patscheider als Touristenführerin war es der höchste Lohn, wenn es ihr gelang, die Besucher mitzureißen, sie mit der Dramatik der Burggeschichte zu fesseln. Heute schien das ausnehmend gut funktioniert zu haben. Welch ein gelungener Auftakt der Saison!
Plötzlich durchbrach der gellende Schrei einer jungen Frau das Schweigen. Irritiert und fragend sah Patscheider sie an. Die Frau hielt eine Hand vor ihren Mund, während sie mit der anderen auf das Einstiegsloch wies. »Da unten …«, stammelte sie. »Um Gottes willen, da … da liegt einer!«
Irma Patscheiders Gesichtszüge erstarrten, dann folgte ihr Blick dem Schein ihrer Taschenlampe. Sie erkannte den Steinboden, dann ein Etwas. Offensichtlich ein Mensch. Seine Beine waren nur etwa bis zur Hüfte zu sehen. Er lag auf der Seite in annähernd embryonaler Haltung.
»Werte Frau Patscheider«, meldete sich ein älterer Herr mit ernster Stimme zu Wort. »Ich habe nichts gegen einen gelungenen Touristenscherz, aber das hier geht zu weit, entschieden zu weit. Was haben Sie sich dabei gedacht? Wenn nun Kinder dabei gewesen wären?«
* * *
Polizia di Stato, ein Notarzt und die Spurensicherung trafen eine halben Stunde nach Eingang des Anrufs auf Burg Reifenstein ein. Wie angeordnet hatte Patscheider alles so belassen, wie sie und die Besucher es vorgefunden hatten. Die Touristen hatten sich mit ihr im Brunnenhof versammelt, um auf die Polizei zu warten. Da sie allesamt Zeugen waren, war schon bei dem Telefonat angewiesen worden, dass niemand die Burganlage verlassen durfte.
Jetzt standen Reiterer und Vincenzo gemeinsam an dem offenen Einstiegsloch zum Verlies, durch das sich der Arzt abseilte. Marzoli und Mauracher nahmen währenddessen die Daten der Zeugen auf.
Reiterer ließ seinen Blick über die gekrümmten Beine des Gefundenen gleiten. »Eine Burgleiche also! Alle Achtung, Bellini, Ihnen fällt doch immer wieder etwas Neues ein. Mit Ihnen als leitendem Commissario macht mein Beruf erst richtig Spaß.« Mit einem Nicken wies er in die Dunkelheit. »Dass dieser Mensch friedlich schläft, ist jedenfalls unwahrscheinlich.«
Vincenzo bedachte den Leiter der Spurensicherung mit einem abschätzigen Blick. »Sie haben wirklich vor nichts Respekt, oder?«
Ein angedeutetes Lächeln umspielte Reiterers Mundwinkel. »Ich glaube, mein Respekt ist dem da unten ziemlich egal. Was halten Sie davon, wenn Sie zu Marzoli gehen und dort Ihre Arbeit verrichten und Zeugen befragen? Derweil kümmere ich mich mit meinem Team um das, was wirklich wichtig ist: Spuren sichern.«
Kopfschüttelnd ging der Commissario in den Brunnenhof. Was für ein Sarkast. Marzoli und Mauracher hatten bereits die Adress- und Aufenthaltsdaten der Touristen aufgenommen. Allen stand der Schock noch ins Gesicht geschrieben, sie konnten lediglich aussagen, dass sie sich auf das Burgverlies als Highlight gefreut, aber stattdessen die vermeintliche Leiche erblickt hatten. Patscheider, so ihre Aussage, hatte bei den Kontrollgängen während der Winterpause ebenfalls nichts Auffälliges bemerkt.
Der Notarzt, Dottore Robert Niederwolfsgruber, gesellte sich zu ihnen. »Auf ein Wort, Commissario. Ich würde gern jetzt wieder zurück nach Bozen fahren. Mein Sohn hat heute Geburtstag.«
Vincenzo nickte. »Natürlich, Dottore. Was können Sie mir zur Todesursache sagen? Wie lange hat er schon dort gelegen?«
Der Arzt zuckte mit den Schultern. »Eine männliche Leiche, schätzungsweise um die vierzig. Wir haben keine Papiere bei ihm gefunden. Seine Körperhaltung spricht dafür, dass er erfroren ist. Er hat sich wie ein Baby zusammengekrümmt, um so viel Körperwärme wie möglich zu halten. Irgendwann dürfte er eingeschlafen und erfroren sein. Zumindest kein allzu grausamer Tod. Wie lange er schon in dieser Dunkelkammer gelegen hat, lässt sich nur schwer sagen. Das hängt von Temperatur und Luftfeuchtigkeit ab, aktuell und im Wechsel der Jahreszeiten. Je kälter und trockener es ist, desto länger bleibt eine Leiche erhalten. Verwesungsprozesse
Weitere Kostenlose Bücher