Goldrausch in Bozen - Kriminalroman
sofort anschlug, sollte jemand versuchen, ohne Schlüssel ins Burginnere zu gelangen.
Vier Tote aus dem Pflerschtal binnen so kurzer Zeit, dazu gleich mehrere Vermisste und ein verschwundener Schlüssel. Das konnten einfach keine Zufälle sein. »Frau Patscheider, ist bei einer der letzten Führungen vor der Winterpause etwas Ungewöhnliches vorgefallen? Vielleicht ein Streit zwischen Besuchern, hat sich ein Gast auffallend lange von der Gruppe abgesondert? Denken Sie nach, alles kann wichtig sein.«
Sie schüttelte den Kopf.
Doch Vincenzo Bellini spürte, dass der Tag vor der Winterpause, der einunddreißigste Oktober des letzten Jahres, von besonderer Bedeutung sein musste. Allerdings war es bisher nur ein vages und nicht zu begründendes Gefühl. »War bei der letzten Führung vielleicht jemand dabei, den Sie kannten? Oder jemand, den Sie nicht auf der Burg erwartet hätten?«
»Nun, nicht direkt. Es ist nicht ungewöhnlich, dass an den Führungen auch Einheimische teilnehmen. Immerhin ist Burg Reifenstein für unsere Gegend von großer Bedeutung. Ich kann mich daran erinnern, dass bei der letzten Führung gleich mehrere bekannte Gesichter dabei waren.«
Der Commissario bat Irma Patscheider, sämtliche Namen zu notieren, und schaute ihr dabei über die Schulter. So langsam erkannte er wenigstens die Puzzlesteine als solche. »Nur noch eine allerletzte Frage. Könnte jemand den Schlüssel unbemerkt entwendet haben, um einen Nachschlüssel anfertigen zu lassen?«
Die Burgherrin wiegte nachdenklich den Kopf hin und her. »Auch wenn der Schlüssel antik aussieht, gehört er doch zu unserem modernen Schließsystem. Wenn überhaupt, dann könnte den nur ein Schmied nachmachen.«
»Aber das dürfte er nicht, oder?«
Patscheider nickte. »Das stimmt. Ohne Schlüsselpass wäre das illegal, aber der Pass war nicht verschwunden.«
»Aber wäre es einem Schmied denn technisch möglich, den Schlüssel nachzumachen, wenn er ihn vor sich liegen hat?«
»Ich denke schon, aber ich habe bisher noch nie darüber nachgedacht, wenn ich ehrlich bin. Und eine Expertin bin ich auch nicht.«
Vincenzo fragte sich, wie viele Schmiede es wohl in Südtirol gab. Seine Kollegen würden zur Sicherheit alle abtelefonieren. »Könnten Sie mir noch die Schlüsselnummer aufschreiben, und falls wir einen Schmied finden, der so einen Schlüssel nachgemacht hat, kann es sein, dass ich später noch das Original von Ihnen brauche. Ich verspreche allerdings, dass ich es mir nur so kurz wie nötig ausleihe.«
Vincenzo atmete tief durch. Jetzt hatte er seinen Fall. Daran dürfte selbst der Vice-Questore nicht länger zweifeln. Endlich ein wenig Ablenkung von seiner Beziehungskrise. Er nahm sich vor, Gianna am Wochenende entgegen seiner ursprünglichen Pläne einen Überraschungsbesuch abzustatten, bevor die Ermittlungen Fahrt aufnehmen würden.
15
Bozen, Dienstag, 17. April
Vincenzo stand an seinem Bürofenster und blickte mal wieder auf die Largo Giovanni Palatucci. Obwohl er schon so viele Wechsel der Jahreszeiten in seiner Heimat erlebt hatte, faszinierte es ihn jedes Mal aufs Neue, wie gravierend die Klimaunterschiede zwischen nahe gelegenen Regionen waren. Lagen rund um Sterzing noch gut dreißig Zentimeter Schnee, konnte man in Bozen schon im Biergarten sitzen. Doch diesmal drangen die Wunder der Natur nicht in sein Innerstes vor, sondern wurden von einem unsichtbaren Panzer abgewehrt, der sich um seine Seele gelegt hatte. Alkoholverzicht und der regelmäßige moderate Sport hatten ihn zwar wieder physisch fit gemacht, aber um seine Psyche war es noch immer schlecht bestellt. Er kam einfach nicht von Gianna los. Stattdessen fieberte er dem Wochenende entgegen, wenn er sie endlich wiedersehen würde. Dabei wusste er doch eigentlich schon genau, wie ihr Treffen enden würde. Sie würde sein Auftauchen als Druck, Nachspionieren und mangelndes Einfühlungsvermögen interpretieren, ihren eigenen Anteil an der vertrackten Situation aber weiterhin leugnen. Natürlich alles unbewusst, denn auch sie umgab ein Panzer. Was Vincenzo bei psychischem Druck bislang stets geholfen hatte, sich zu entspannen, nahm er jetzt nicht einmal mehr wahr: die meditative Wirkung der Natur.
Er hörte ein lautes Räuspern hinter sich. Marzoli und Mauracher standen an seinem Schreibtisch. Er hatte sie zu sich bestellt, immerhin hatte es in dem neuen Fall ein weiteres Todesopfer gegeben. »Wie wäre es demnächst mit Anklopfen?«
Seine Kollegen sahen sich an.
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