Goldrausch in Bozen - Kriminalroman
austauschen konnte, die auf seiner Wellenlänge lagen.
Thaler stand auf, um sich noch eine Flasche Sankt Magdalener zu holen. Alkohol hatte er sein Leben lang nur in höchst bescheidenen Maßen genossen. In seinen zweiundsiebzig Jahren war der heutige Tag der erste und letzte, an dem er betrunken sein würde. Er füllte seinen Krug bis zum Rand. Voller Wehmut schaute er nach Osten zur Dreiherrenspitze. Wie oft hatte er diesen wunderschönen dreitausendfünfhundert Meter hohen Berg mit seinem markanten Gipfelaufbau und den großen Gletschern schon bestiegen?
Nur ein einziges Mal hatte er in seinem bisherigen Leben geweint, aber in diesem Augenblick schossen ihm zum zweiten Mal die Tränen in die Augen. Er würde nie mehr auf der Dreiherrenspitze stehen. Genauso wie auf der Rötspitze, die nicht minder schön war. Unzählige Touristen hatte er auf diese und andere Gipfel geführt. Seine absolute Ruhe und Sicherheit waren es gewesen, warum er einst zu den gefragtesten Bergführen Südtirols gezählt hatte.
Abgesehen von seinem Vater, der ihm schon als Kleinkind die Natur nähergebracht hatte, gab es nur einige wenige Bergführerkollegen, mit denen er sich durch eine Seelenverwandtschaft verbunden fühlte. Am ehesten war das sicherlich bei Hans Valentin der Fall. Er war ein großartiger Alpinist, der schon als Kind die Natur begriffen hatte. Er verstand den Baum, die Blume, den Fluss, die Steine. Wenn sich zwei Menschen begegneten, die so waren, spürten sie es vom ersten Moment an. Es bedurfte keiner Worte mehr. Es war ihr gemeinsamer Sinn für das Erhabene, der für sie sprach. So wie am dreiundzwanzigsten August 1975. Er erinnerte sich noch, als wäre es gestern gewesen. Sein Telefon hatte um halb zehn morgens geklingelt. Christel Abendstein aus Kitzbühel war dran, fragte, ob er sie am nächsten Tag auf die Dreiherrenspitze führen könne. Eigentlich hatte er da schon eine andere Führung angenommen, aber in Christels Stimme hatte etwas mitgeschwungen, das ihm zu sagen schien: Du musst einfach zusagen! Dem gläubigen Thaler war es so vorgekommen, als träfe nicht er, sondern eine höhere Macht die Entscheidung, und er hatte der anderen Bergsteigergruppe abgesagt. Es war die einzige Absage in seiner Zeit als Bergführer.
Weil Christel Abendstein aus Kitzbühel ihre Kondition und Bergerfahrung als sehr gut bezeichnet hatte, beschlossen sie, die Tour an nur einem Tag zu gehen. Am vierundzwanzigsten August 1975 trafen sich Christel Abendstein und Alexander Thaler um drei Uhr in der Nacht auf dem Parkplatz am Ende der Fahrstraße. Als sie sich zum ersten Mal sahen, geschah etwas zwischen ihnen. Äußerlichkeiten spielten auf beiden Seiten keine Rolle. Christel war klein, zierlich, hatte kurze blonde Haare, blaue Augen. Sie war vom Typ her unscheinbar, doch Thaler hatte im ersten Augenblick der Begegnung ihre innere Schönheit erkannt. Es war, als hätte eine gütige Macht ein Bergseil zwischen ihnen gespannt. Ein ewiges Seil, das flexibel genug war, um ihnen beiden in der Seilschaft Raum zu lassen, doch zugleich so fest und unzerreißbar, dass es selbst dann hielt, wenn einer von ihnen in den Abgrund stürzen würde.
Immer mehr Tränen rannen dem Bergführer bei der Erinnerung an die alten Zeiten über die Wangen. Er füllte den Krug erneut. Schweigend war er mit Christel den Weg nach Osten gegangen. Für den Auf- und Abstieg hatte Thaler den Normalweg von der Birnlückenhütte über das Prettau- und Lahnerkees gewählt, die beste Route für eine Tagestour. Nach kurzem Marsch über die kleine asphaltierte Straße, die an der Prastmann Alm endete, standen sie vor der kleinen Kapelle am Ende des Ahrntals. Die Kirche stammte aus dem fünfzehnten Jahrhundert, einer uralten Legende zufolge sollten die Talbewohner genau an dieser Stelle einst ein läutendes Glöcklein in der Erde gehört haben. Doch als man nach diesem grub, fand man statt des Glöckchens ein Bildnis des Heiligen Geistes. Obwohl das Bildnis entfernt wurde, tauchte es immer wieder hinter demselben großen Stein auf. Und so beschloss man, direkt an dem Stein und verbunden mit ihm eine Kapelle zu errichten, die dem Heiligen Geist geweiht wurde.
Als Christel Abendstein aus Kitzbühel an jenem schicksalhaften Tag im August 1975 die Kirche sah, wurde sie zum ersten Mal, seit sie Thaler begrüßt hatte, etwas gesprächiger. »Ich glaube, hier werde ich einmal heiraten. Und der Bund, der hier geschlossen wird, wird ein Leben lang halten. Nichts wird ihn jemals
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