Goldrausch in Bozen - Kriminalroman
lösen können.« Daraufhin hatte sie sich von der Kirche abgewandt und war weitergegangen.
Zwei Monate und drei Tage später hatten Alexander Thaler aus Südtirol und Christel Abendstein aus Kitzbühel in ebenjener kleinen Kapelle geheiratet. Nur seine Eltern, ein paar Bergführerfreunde und Christels Schwester waren dabei. Ihre Eltern waren schon lange tot, ihr Vater im Zweiten Weltkrieg gefallen, die Mutter kurz danach vor Kummer gestorben.
Thaler blickte nach Süden. Wenn man genau hinsah, konnte man sogar von hier aus das Kirchlein erkennen. Der Wind schien ein wenig aufzufrischen, er kam jetzt aus Süden. Noch war es so warm, dass der Schnee selbst in dieser Höhe schmolz, doch er ahnte, dass der Winter sich noch nicht geschlagen gegeben hatte. In zwei, drei Tagen würde es wieder schneien. Ihm konnte es egal sein. Wie viele Schneestürme er schon erlebt hatte, hier oben am Alpenhauptkamm, wo sich alle Wetterextreme entluden, egal aus welcher Richtung sie kamen? Er wusste es nicht.
Vorsichtig drehte er den unscheinbaren Ring vor seinen Augen, und seine Erinnerungen stiegen aus dem Unterbewusstsein auf, jedes Detail. Schneesturm. Der Wind war zu einem infernalischen Gebrüll geworden. Stundenlang, wie aus dem Nichts. Nur dieses eine Mal in all den Jahren hatte ihn sein Instinkt für die Urgewalten getäuscht. Der Schnee war wie ein Vorhang gefallen. Allerdings nicht wie zu erwarten vertikal, sondern horizontal. Meter für Meter mussten sie sie sich durchkämpfen in der Hoffnung, das sichere Tal zu erreichen. Selbst ihre Stimmen kamen gegen das Heulen des Windes nicht mehr an. Stundenlang waren sie marschiert, er voran. Der Schnee reichte ihm bald bis zu den Knien. Als er sich umdrehte, peitschten die Schneeflocken in sein Gesicht, ein Heulen und Fauchen, das aus allen Richtungen zu kommen schien. Er war allein.
Thaler riss sich aus seinen zunehmend alkoholschweren Erinnerungen. Zweiundsiebzig Jahre, er hatte ein stattliches Alter erreicht und über einunddreißig Jahre auf diesen einen Moment gewartet. Er stand auf, schaute sich in seiner kargen Hütte um. Immerhin hatte er auf seinem Dach ein paar Solarzellen angebracht, die für warmes Wasser sorgten. Luxus war für ihn und Christel nie von Bedeutung gewesen, aber hin und wieder eine warme Dusche, das tat gut. Schließlich hatten sie die meiste Zeit in der Natur verbracht, in eisigen Biwakschachteln oder im Zelt auf einem Gipfel. Sie hatten nie viel geredet, aber das mussten sie auch nicht. Das Bündnis der Schöpfung sprach für sie. Wenn sie zusammen waren, ging es nicht vorrangig um Sex. Sie schliefen miteinander, aber auf eine Weise, bei der nicht der Akt als solcher im Mittelpunkt stand. Sie verschmolzen vielmehr zu einer Einheit.
Thaler wurde von Weinkrämpfen geschüttelt. Sein Schicksal hatte sich erfüllt, doch die Erinnerungen waren in diesem Moment übermächtig. Sie hatten Kinder haben wollen, aber es hatte nicht sein sollen. Doch obwohl Christel keine Kinder bekommen konnte, hatte das nichts an dem starken Bergseil geändert, das ihre Seelen verband.
Thaler ging in die Hütte und kehrte mit einer weiteren Flasche zurück. Er füllte den Krug nach. Wenn ihn doch nur sein Instinkt nicht im Stich gelassen hätte!
Nach der Hochzeit hatten sie nur von seinem Lohn als Bergführer gelebt. Später verdiente er sich etwas dazu, indem er junge Nachwuchsführer ausbildete. Einer von ihnen war Markus Pircher gewesen. Thaler hatte ihn zunächst für oberflächlich gehalten, seiner Profession nicht würdig, aber an einem Abend im Berghotel am Talschluss hatte Pircher sein Herz geöffnet und seinem Lehrer erzählt, was sein Leben geprägt hatte. Der Vater war schwerster Alkoholiker, die Mutter starb früh an Krebs, sein Bruder, der für ihn das einzige Vorbild seiner Kindheit gewesen war, verunglückte am Berg. Als ihm Pircher erzählt hatte, dass sein Onkel ihn mit elf Jahren missbraucht hatte, aber nie dafür bestraft worden war, war er in Tränen ausgebrochen. Seitdem hatte Thaler der junge Bursche nur noch leidgetan. Es war nur natürlich, dass er allenthalben nach Anerkennung und Bestätigung lechzte. Thaler nahm sich seiner an, da er an diesem Abend erkannt hatte, dass Markus Pircher in seinem tiefsten Innern doch Respekt vor dem Leben hatte. Deshalb war auch er ein guter, verantwortungsvoller Bergführer geworden.
Jahre nach der Ausbildung hatte Thaler den jungen Mann fast vergessen, als der sich bei seinem Lehrer meldete, um ihn für eine
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