Goldstein
Karten zu spielen, dann aber Marthas Blick gesehen und eingelenkt. Alex konnte ihre Schwägerin verstehen. Es war nicht nur das warme, schwüle Wetter, das sie auf ihrem Ausflug nach Köpenick hatte bestehen lassen, es war das Wissen darum, dass eine Fahrt ins Grüne einen Tag ohne Alex bedeuten würde.
Gestern Abend hatten sie alle drei in der engen Wohnung aufeinandergehockt und Karten gespielt, fast wie früher, als Alex und Helmut noch beide bei den Eltern wohnten und ihre Mutter hin und wieder zu einer Partie Skat überreden konnten. Zeiten, die niemals wiederkommen würden. Skat spielen, das war Helmuts Idee gewesen, den ganzen Abend hatten sie damit verbracht. Alex hätte es lieber gesehen, Helmut wäre mit seiner Martha raus ins Kino gegangen oder Tanzen oder irgendwas in der Art, doch ihr Bruder hatte sich nicht von der Skatrunde abbringen lassen. Und Martha hattebrav Bier aus dem Keller geholt und nichts gesagt, aus Respekt vor ihrem Mann, aber ihre Augen hatten nicht lügen können.
Es reichte einfach. Alex hatte die Gastfreundschaft ihres Bruders jetzt lange genug strapaziert, sie hatte für ein paar Tage ein anständiges Dach über dem Kopf gehabt, hatte sich satt essen und ihre Wunden lecken können, jetzt war es an der Zeit zu gehen!
Diese Frau, diese Gerichtshelferin oder was die auch sein mochte, die war nicht mehr wiedergekommen. Alex hatte es nicht glauben können, als die da plötzlich vor der Tür stand und ihre dämlichen Fragen stellte. Im letzten Moment hatte sie sich noch verstecken können, in der Abseite neben der Spüle, zwischen Schrubbern, Besen und Konserven, und versucht, so leise wie möglich zu atmen. Dabei war die Gerichtsfrau gar nicht mal in die Wohnung gekommen, hatte nur vor der Wohnungstür im Treppenhaus gestanden. Hatte allen Ernstes gefragt, ob Alexandra – Alex hatte längst vergessen, dass dies ihr eigentlicher Name war –, ob Alexandra vielleicht bei ihren Eltern zu finden sei. Alex hatte sich zusammenreißen müssen, um nicht laut loszulachen. Bei ihrem Alten! Emil Reinhold, der seine eigene Tochter auf der Straße leben ließ? Und seinen Sohn verstoßen hatte? Die hatte vielleicht eine Ahnung!
Aber ganz dumm konnte sie nun auch wieder nicht sein. Immerhin hatte sie Alex’ Namen herausgefunden! Und Helmuts Adresse. Wo sie doch keinen Ton gesagt hatte, die ganze Zeit nicht, als die Bullen sie in die Mangel genommen hatten. Und später auch nicht. Obwohl sie vor Angst beinah gestorben wäre, all diese blau Uniformierten um sich herum. So viel Angst hatte sie nicht einmal am KaDeWe gehabt, als sie hinter ihr hergelaufen waren, nicht einmal, als der Bulle auf sie geschossen hatte.
Bennys Mörder.
Die ganze Zeit, während sie bei den Bullen sitzen musste und im Gericht, hatte sie gefürchtet, der Schupo, dem sie das Gesicht zerschnitten hatte, könne jeden Moment hereinstürzen und seine Arbeit beenden mit einem einzigen gezielten Schuss. Jede Nacht träumte sie von ihm, seine Visage ganz nah, jede einzelne Pore, dieses Gesicht, das sie mit ihrem Messer für immer gezeichnet hatte. Und Bennys Sturz in den Tod, sein stummer Sturz in die Tiefe, jede Nacht stürzte er aufs Neue. Und oben, weit über ihm, stierte die gleiche Visage über die Balustrade, schwitzend, grinsend.
Sie würde ihn wiedererkennen, auch in zwanzig Jahren noch. Aber sie hatte nicht vor, so lange zu warten.
Alex fühlte beinahe eine Art Sehnsucht nach der alten Fabrik. Nicht nach den zugigen Hallen, in denen sie zu schlafen versucht hatte, sondern nach den Menschen dort, nach Vicky und Fanny, Kotze und Felix. Dass auch Kralle dort rumlungerte und seine Rattenbande, das musste man wohl in Kauf nehmen. Alles im Leben hatte eben zwei Seiten.
Auch so ein Spruch von Benny! Verdammt, wie sie ihn vermisste!
Wenn er recht gehabt und jede gute Sache ihre schlechten Seiten hatte, dann mussten doch auch alle schlechten ihre guten Seiten haben, oder? Sie tat sich schwer damit, die guten Seiten ihrer jetzigen Situation zu erkennen, vielleicht bräuchte sie noch ein paar Tage dafür. Immerhin hatte sie Helmut wiedergesehen. Ohne den ganzen Scheiß, der ihr in den letzten Tagen passiert war, hätte sie wohl niemals gewagt, bei ihm zu klingeln. Viel zu groß war ihre Scham für das, was sie getan hatte. Was Karl getan hatte. Aber ihr großer Bruder hatte sie in den Arm genommen, und sie hatte sich kein bisschen mehr geschämt für den ganzen Mist, der damals passiert war, kurz vor Weihnachten. Das erste
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