Goldstein
Selbst Kriminalrat Gennat ließ sich ab und an beim Stiftungsfest eines Ringvereins sehen; Feste, bei denen es durchaus gesittet zuging, nicht wilder jedenfalls als auf dem Stiftungsfest eines Gesangvereins.
»Und Sie wissen auch, dass Lapke und Höller vor zwei Wochen aus Tegel entlassen worden sind?«
Rath nickte. Die führenden Köpfe der Nordpiraten waren vorzwei Jahren bei einem Tresoreinbruch am Reichskanzlerplatz in flagranti erwischt und für ein paar Jahre weggesperrt worden. Deren Zwangsurlaub im Zuchthaus Tegel hatte die Piraten entscheidend geschwächt, und am meisten hatte die Berolina davon profitiert. Seit Lapke und Höller wieder auf freiem Fuß waren, schienen sie bestrebt, den status quo ante wiederherzustellen, die Zwischenfälle häuften sich. Als bisherigen Höhepunkt hatten Unbekannte vor einer Woche einen von Marlows Drogenhändlern mitsamt seiner Ware durchs geschlossene Fenster eines Tanzlokals geworfen, was der Mann nicht nur mit Schnittwunden, sondern auch mit einer Querschnittslähmung bezahlt hatte. Kurz darauf war ein gerade neu eingerichtetes Wettbüro der Piraten überfallen und verwüstet worden. Da schien sich ein Unterweltkrieg anzubahnen, den nicht wenige Polizisten mit einer gewissen Genugtuung verfolgten. Sollen die Verbrecher sich doch gegenseitig fertigmachen, so die weit verbreitete Meinung.
»Ich habe gehört von Ihrem Ärger«, sagte Rath.
»Ärger ist mittlerweile das falsche Wort«, meinte Marlow. »Wir haben den ersten Toten. Ein ... sagen wir: Geschäftspartner der Berolina wurde heute in seinem Laden gefunden. Ermordet.«
Rath war überrascht. Mord war eigentlich eine Sache, die gegen den Ehrenkodex der Ringvereine verstieß. Allerdings hatten die Nordpiraten eher den Ruf eines Rattenvereins, der Dinge wie Ehre und Tradition nicht sonderlich wichtig nahm. »Und Sie vermuten, dass die Piraten dahinterstecken?«
Marlow zuckte die Achseln. »Jedenfalls häufen sich die für die Berolina unangenehmen Zwischenfälle derart, dass ich nicht mehr an Zufall glaube.«
»Was meinen Sie?«
»Nun ...« Marlow räusperte sich, bevor er weitersprach. »Hugo Lenz ist seit gestern spurlos verschwunden.«
Rath horchte auf. Das war allerdings eine große Nummer. »Und Sie glauben, dahinter stecken auch die Piraten?«
»Genau das sollen Sie für mich herausfinden.«
Rath schreckte auf. Während er Marlow zuhörte, glaubte er, ein bekanntes Gesicht in dem blank polierten Rückspiegel des Duesenberg gesehen zu haben. Um ganz sicherzugehen, drehte er den Kopf. Tatsächlich! Da kam sie die Dircksenstraße hinunter undwarf einen suchenden Blick zum Polizeipräsidium hinüber. Rath duckte sich.
»Was ist?«, fragte Marlow. »Spielen Sie Verstecken?«
»Da draußen«, flüsterte Rath, »geht jemand, der mich unter keinen Umständen bei Ihnen im Auto sehen darf.«
»Der? Nicht eher die? Die hübsche Schwarzhaarige mit dem grünen Hut?« Marlow lachte und gab Liang ein Zeichen. Der Motor ließ ein tiefes, gleichmäßiges Grummeln hören, und der Duesenberg setzte sich in Bewegung. »Dieselbe Dame, mit der Sie damals das Plaza besucht haben, nicht wahr?«
Rath antwortete nicht. Langsam hob er seinen Kopf über die Rückbank und schaute durch das Heckfenster. Charly blickte suchend zum Publikumseingang des Präsidiums hinüber und dann auf ihre Armbanduhr.
»Ich schätze monogame Männer«, fuhr Marlow fort, »so etwas zeugt von Loyalität.«
»Ich bin Junggeselle«, sagte Rath. Er hatte nicht vor, mit Johann Marlow über Charly zu reden, schlimm genug, dass der Mann sie wiedererkannt hatte.
Marlow lachte. »Aber ein treuer, offensichtlich. Verabredet, was? Keine Sorge, wir drehen nur eine Runde um den Block, dann sind Sie rechtzeitig zurück.«
Wo Gereon nur blieb? Charly kramte die zerknautschte Schachtel aus ihrer Handtasche und steckte sich eine Juno an, just in dem Moment, als ein Bus die Grunerstraße hinunterkam, dessen Oberdeck für ihre Zigarettenmarke Werbung fuhr. Sie inhalierte hastig und warf noch einen Blick auf die Uhr. Wo er nur blieb? Schon zehn Minuten über die Zeit! Nun gut, sie selbst hatte es auch nur mit fünf Minuten Verspätung zum Alex geschafft, aber wo kam man denn hin, wenn nicht einmal mehr die Männer pünktlich waren!
Obwohl sie keinen wirklichen Grund hatte, war sie wütend auf ihn, auf sein Zuspätkommen, darauf, dass er nicht einmal nachgefragt hatte am Telefon, um was es überhaupt ging. Und eigentlich war sie auch wütend auf sich selbst,
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