Goldstein
wütend auf die verrinnende Zeit, auf das Gefühl der Machtlosigkeit, das sie beinahe rasend machte. Jede Minute, die sie dazu verdonnert war, untätig herumzustehen, ließ ihre Wut weiter wachsen. Und für die letzten fünfMinuten untätigen Herumstehens war nun einmal Gereon Rath verantwortlich, Kriminalkommissar Rath höchstpersönlich! Sie kompensierte ihre Ungeduld mit tiefen Lungenzügen, inhalierte den Rauch mit der ganzen Kraft ihrer Wut. Die Zigarette half ihr ein wenig, aber wirklich ruhig wurde sie davon auch nicht.
Na endlich, da war er ja, der Herr! Stand drüben auf der anderen Seite der Grunerstraße vorm Baustellenzaun. Gereon schien sie noch nicht entdeckt zu haben, aber der Hund wedelte schon mit dem Schwanz und zog an der Leine, während Herrchen brav nach rechts und links schaute, bevor er den Fahrdamm überquerte, gleich hinter einer protzigen amerikanischen Limousine. Dann endlich schaute er hinüber zu ihr und lächelte, als er sie erkannte, und Charly spürte, wie ihr schon dieses Lächeln half. Sie war nicht mehr allein. Sie trat die Zigarette aus. Jegliche Wut war verraucht. Und machte der Verzweiflung wieder Platz.
Der Hund war als Erster bei ihr, sprang an ihr hoch und versuchte, ihr durchs Gesicht zu lecken. Sie wehrte sich, so gut es ging, und streichelte ihm durchs schwarze Fell. »Kirie! Nicht so wild«, sagte sie.
Und dann stand Gereon vor ihr mit seinem Lächeln und einem Achselzucken. »Hätte wohl doch besser ein Taxi genommen«, sagte er.
Sie versuchte, zurückzulächeln, und merkte, wie sehr ihr das misslang.
Gereons Lächeln verschwand, er trat noch einen Schritt näher, stand nun ganz nah bei ihr. Und dann nahm er sie in den Arm. Dankbar ließ sie ihren Kopf an seine Schulter sinken, spürte seine warmen Hände, die über ihren Nacken streichelten. Sie musste aufpassen, dass sie an seiner Schulter nicht losheulte wie ein Kind, das man von der Schule verwiesen hatte.
»Was ist denn los, meine Liebe?«, fragte er, und sie hatte ihm jede Minute, die er zu spät gekommen war, schon verziehen. Der Kloß war wieder in ihrem Hals, es dauerte einen Moment, bis sie sprechen konnte.
»Gereon«, sagte sie, »ich habe einen solchen Bock geschossen! Du musst mir helfen.«
»Du zitterst ja! Was ist denn passiert?«
Sie hatte das gar nicht bemerkt, aber er hatte recht: Sie bibberteam ganzen Körper, als habe sie sich zu dünn angezogen. Sie hob die Schultern, unfähig zu reden. Und dann fing sie tatsächlich an zu weinen. Das war ihr noch nie passiert in seiner Gegenwart, und sie drehte ihr Gesicht weg. Er nahm sie wieder in den Arm. Sie konnte sich sein bestürztes Gesicht vorstellen, erkennen konnte sie es durch ihren Tränenschleier nicht.
Zehn Minuten später saßen sie bei Aschinger. Charly hatte eigentlich direkt in die Burg gehen wollen, ins Meldeamt, keine Zeit verlieren, keine Minute, keine Sekunde, aber Gereon hatte darauf bestanden, dass sie ihm die Geschichte erst einmal in aller Ruhe erzählte und ihre Tränen trocknete. Und als sie ihr Gesicht im Spiegel der Aschinger-Damentoilette gesehen hatte, wusste Charly, dass das eine gute Idee gewesen war. Sie brauchte ein paar Minuten zum Nachschminken, und als sie wieder zurückkam, standen die Getränke schon auf dem Tisch; ein Tee mit Zitrone für sie, ein Kaffee, wie immer schwarz, für ihn. Gereon trank zu allen Tageszeiten Kaffee, selbst abends hatte er sich schon welchen aufgebrüht. Für Kirie gab’s zwei Bouletten. Kaum hatte Herrchen den Teller auf den Boden gestellt, fiel sie schon darüber her. Die Bouletten hatte der Hund im Rekordtempo verschlungen, umso ausgiebiger widmete er sich danach dem Ablecken des Tellers. Charly lächelte. Wenigstens der gefräßige Hund konnte ihr ein Lächeln entlocken, das diesen Namen auch verdiente.
Sie nahm einen Schluck Tee, rührte noch einmal in der Tasse, und dann erzählte sie. Erzählte Gereon von dem eingeschüchterten Mädchen in ihrem Büro, von Webers Auftrag, dem unflätigen Schupo, von dem Aufruhr auf dem Gang wegen des erschossenen Polizisten – und schließlich von dem verhängnisvollen Fehler, der ihr unterlaufen war.
Gereons Reaktion war nicht so, wie sie erwartet hatte.
»Du hast ein Straßenmädchen unbewacht im Büro zurückgelassen?«
»Ich konnte doch nicht ahnen, dass so was passiert. Ich bin doch nur zur Tür ...«
»Du hast sie nicht mehr im Blick gehabt. Was, wenn sie einen Brieföffner vom Schreibtisch genommen und dich angegriffen hätte und
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