Goldstein
Zigarette und schnippte sie dann in das schwarze Wasser. Auf der Straße herrschte auch jetzt noch eine ganze Menge Betrieb. An ein mondänes Kurbad erinnerte sie trotz ihres Namens nicht. Mit seinem Maßanzug gehörte Goldstein zu den modischen Ausnahmen. Der Sommermantel verdeckte das meiste und ließ ihn nicht allzu overdressed aussehen. Er steckte die Hände in die Manteltaschen und folgte dem Strom der Passanten.
Das weiße U auf blauem Grund leuchtete schon von Weitem durch die Nacht. Dem U-Bahnhof hatte man ein oberirdisches Empfangsgebäude gegönnt; ein eleganter, moderner Backsteinbau empfing ihn mit hellem Neonlicht. Er studierte den Linienplan und sah, dass die Bahn Richtung Süden fuhr. Keine Schlange am Fahrkartenschalter. Eine Rolltreppe führte tief hinunter in die Erde. Er ließ sich in die Tiefe tragen und drehte sich um. Oben am anderen Ende konnte er eine schwarze Gestalt ausmachen, die gerade die Treppe betreten hatte, und glaubte zunächst, seine Phantasie spiele ihm einen Streich. Da stand ein Schwarzhut auf den Stufen und schwebte langsam nach unten, mit der gleichen einförmigen Geschwindigkeit wie alle hier. Ein alter Jude,der ihn an seinen Vater erinnerte, dessen Haar zum Schluss auch weiß gewesen war. Nun gut, so ungewöhnlich war das Ganze nun auch wieder nicht, mit einem jüdischen Krankenhaus ganz in der Nähe, dennoch wirkte der Mann, wie er da so langsam nach unten schwebte, wie eine Erscheinung auf ihn, wie ein Dibbuk, wie der Geist von Nathan Goldstein, der gekommen war, den Sohn heimzusuchen.
Unten auf dem Bahnsteig hatte er den Schwarzhut aus dem Blick verloren und war schon geneigt, ihn wirklich für eine Erscheinung zu halten. Doch dann tauchte die schwarze Gestalt wieder auf, schien hinabzuschweben und verfiel, unten angekommen, in einen Trippelschritt, in einen ähnlich seltsamen Trippelschritt, wie Nathan Goldstein ihn gepflegt hatte. Mit unendlich vielen dieser kleinen Schritte war sein Vater jeden Tag zweimal über die Williamsburg Bridge gelaufen, zu Greenbergs Kleiderfabrik in der Lower East Side und wieder zurück. Der Schwarzhut erinnerte in Vielem an seinen toten Vater, nur in einem nicht: Nathan Goldstein hätte niemals die Bahn genommen, dazu war er zu geizig gewesen. Oder einfach zu arm.
Ungefähr in der Mitte des Bahnsteiges blieb der alte Jude stehen. Er wirkte, als gehöre er nicht zu der Welt rings um ihn, nicht zu den Werbetafeln, nicht zu den elektrischen Lichtern und am allerwenigsten zu den Menschen, die hier zusammen mit ihm auf ihre Bahn warteten.
Goldstein hatte die vier Männer in Braun zunächst gar nicht bemerkt, obwohl sie viel zu laut lachten und viel zu laut sprachen. Er blickte sich um.
Sie mussten keine Minute nach dem Juden die Rolltreppe hinuntergekommen sein, vier Männer, rotgesichtig vom Alkohol, die gerade einen Mann mit Gesichtsverband überholten, der ihnen demonstrativ den Rücken zuwandte und wie Goldstein und der alte Jude wohl aus dem Krankenhaus gekommen war. Die vier trugen Uniformhemden von der Farbe eines ungesunden Durchfalls, militärisch wirkende Kappen in einem dazu passenden Braun, und jeder am linken Arm eine rote Armbinde. Zunächst dachte Goldstein, das seien Kommunisten, die sollte es ja in dieser Gegend geben, hatte Marion erzählt, aber dann erkannte er das schwarze Kreuz in dem weißen Kreis, ein Kreuz mit Haken, ein Symbol, dasGoldstein in dieser Stadt schon ein paarmal gesehen hatte, ohne sich genau zu erinnern, wo. Der Schwarzhut schien das Zeichen und die Uniformen zu kennen: Unmerklich entfernte er sich von den vier Männern, schob sich langsam und unauffällig, ohne einen einzigen Trippelschritt, zum anderen Ende des Bahnsteigs. Auch die anderen Wartenden hatten die Neuankömmlinge registriert, aber niemand wollte sich das anmerken lassen, alle legten ihre ganze Konzentration in das Bemühen, möglichst unauffällig und unbeteiligt zu wirken.
Goldstein war stehen geblieben, und die Kackhemden, die von all den atmosphärischen Veränderungen, die sie ausgelöst hatten, überhaupt nichts zu bemerken schienen, drängten sich an ihm vorbei. Ihre Alkoholfahnen waren sogar in der abgestandenen U-Bahn-Luft zu riechen. Sie waren gerade an ihm vorbei, da hörte er einen der Männer rufen.
»Ja, was haben wir denn hier?«
Die Uniformierten waren stehen geblieben, ihr Grölen und Lachen versickerte wie das letzte Regenwasser in einem Gully, ebenso die letzten leisen Gespräche auf dem Bahnsteig.
»Hat sich da
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