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Goldstein

Goldstein

Titel: Goldstein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Kutscher
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jemand verlaufen? Ich dachte, das hier ist ein arischer Bahnsteig!«
    Die anderen Braunhemden lachten. Die übrigen Passanten stierten in ihre Zeitungen oder auf ihre Schuhspitzen. Der alte Jude gab es auf, unsichtbar sein zu wollen.
    »Vielleicht sollten wir dem armen Mann den rechten Weg zeigen!«
    Wie der gute Vorsatz eines Pfadfinders hörte sich das nicht an. Der Jude war wieder in seinen alten Trippelschritt gefallen und steuerte zielstrebig auf die Rolltreppe am anderen Ende des Bahnsteigs zu.
    »Hey du! Väterchen«, rief der Wortführer wieder, »wir meinen dich! Bleib doch stehen.«
    Der Schwarzhut blieb nicht stehen, er drehte sich nicht einmal um. Die vier Braunhemden fielen in einen verhaltenen Laufschritt.
    »Hey, Itzig«, riefen sie dem Fliehenden hinterher, »hey, du sollst stehen bleiben, wenn Deutsche mit dir reden!«
    Der Jude hatte die Rolltreppe schon erreicht. Und auch hierblieb er nicht stehen, sondern stieg Stufe für Stufe nach oben, was ihn schnell aus Goldsteins Gesichtsfeld verschwinden ließ. Die vier Männer hatten die Treppe nun auch erreicht. Abe schien der Einzige zu sein, der den Vorfall beobachtet hatte, alle anderen schauten weiterhin in ihre Zeitungen oder einfach auf den Boden. Erst als die Bahn einfuhr, hoben sie ihre Blicke und falteten die Zeitungen zusammen. Türen wurden geöffnet, die ersten Fahrgäste stiegen ein. Niemand stieg aus; die Bahn nahm hier ihren Anfang und würde erst in ein paar Minuten abfahren. Goldstein schaute auf die geöffneten Türen der wartenden Bahn, dann auf die Rolltreppe, die unablässig nach oben rollte, obwohl sie im Augenblick niemanden mehr zu transportieren hatte.
    30
    R ath stiefelte die Rolltreppe des U-Bahnhofs hoch und zündete sich eine Zigarette an. Er hatte den Osten übernommen. Während Charly sich die fünf Familien vornahm, bei denen auch tatsächlich ein Mädchen namens Alex gemeldet war, sollte Rath die Friedrichshainer Reinhold-Liste abarbeiten. Bevor er am Strausberger Platz wieder aus der Erde trat, schaute er noch einmal in sein Notizbuch. Die erste Adresse lag in der Andreasstraße, nicht weit von hier.
    In ihrer entschlossenen Zerknirschtheit hatte Charly ihn an damals erinnert, ein gutes Jahr ungefähr mochte das her sein: der Tag, an dem sie durch die Prüfung gerasselt war. Nicht bestanden, ein Ausdruck, den es in ihrer Welt eigentlich nicht gab. Auch damals hatte sie allein aus dem Handeln Trost geschöpft, indem sie sich einfach hingesetzt und die Prüfung ein zweites Mal in Angriff genommen hatte. Ganz schön zäh, mein Mädchen, hatte er damals gedacht, als es wieder losging und sie bis spät in die Nacht über ihren Büchern saß. Eine ungeheure Liebe hatte er für sie empfunden in jenen Stunden, in denen er sie beobachten konnte, ohne dass sie es merkte. Und gleichzeitig hatte ihm ihre Zähigkeit, die schon an Verbissenheit grenzte, Angst gemacht. Auch jetzt war siefest entschlossen, ihren Fehler wiedergutzumachen, und sie würde nicht eher ruhen, bis ihr das gelungen war.
    Er ging die Andreasstraße hinunter und schaute nach den Hausnummern. Diese Gegend weckte keine guten Erinnerungen. Ganz in der Nähe, auf einer Baustelle an der Koppenstraße, auf der längst ein Neubau stand, hatte Rath seinerzeit die folgenschwere Auseinandersetzung mit Joseph Wilczek gehabt, dem Kleinganoven, dessen Leiche er hatte verschwinden lassen wollen. Dessen Ermittlungsakte er zu den nassen Fischen gestellt hatte, zu den ungelösten Fällen, nachdem er die Mordermittlungen derart sabotiert hatte, dass niemand mehr Wilczeks Todesumstände würde aufklären können. So hatte er jedenfalls gedacht. Bis Johann Marlow den Namen Wilczek in einem Gespräch ganz beiläufig hatte fallen lassen. Einer der Gründe, warum Rath dem Gangster keinen Wunsch abschlagen konnte, auch nicht den, nach dem roten Hugo zu suchen. Wenigstens, und das hielt Rath Johann Marlow zugute, war es seit fast zweieinhalb Jahren der allererste Versuch, den Kommissar für seine Zwecke einzuspannen. Bislang war es eher umgekehrt gewesen: Rath hatte Marlow einmal um einen Gefallen gebeten. Und stand seitdem umso mehr in dessen Schuld.
    Er schaute sich um. Ganz in der Nähe musste die Kneipe liegen, in deren Hinterzimmer Doktor M. sich am Montagabend mit Hugo Lenz hatte treffen wollen und vergeblich auf ihn gewartet hatte. Wirklich keine Gegend, in der Charly um diese Uhrzeit alleine herumlaufen sollte.
    An der Langen Straße kämpfte eine flackernde Leuchtreklame gegen

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