Goldstein
sonst nicht herangekommen wäre. Es war einfacher als gedacht. Rath zeigte seinen Polizeiausweis, und niemanden interessierte es, wer die Frau an seiner Seite war. Erst der Beamte, der die Buchstaben L bis R unter seiner Verantwortung hatte, musterte Charly neugierig. »Ich kenne Sie doch«, sagte er, und Rath erschrak. »Arbeiten Sie jetzt wieder bei den Mördern?«
Charly bewies Geistesgegenwart. »Nur vorübergehend«, antwortete sie, bevor Rath etwas sagen konnte, »ich muss dem Herrn Kommissar helfen, eine Adresse zu finden. Eine Familie Reinhold.«
Der Beamte nickte und ging zu einem Ungetüm von Karteischrank.
»Mit de oder de-te?«
»Beides.«
Der Mann musste nicht lange suchen und zog eine riesige Schublade aus dem Schrank, die er auf den Tisch wuchtete.
»Hier müssten alle Reinholds drin sein«, sagte er. »Mit de und de-te. Wie heißt denn der gute Mann?«
»Wir suchen eine Frau«, sagte Rath. »Genauer gesagt: ein Mädchen.«
»Minderjährig?« Der Beamte guckte skeptisch. »Das macht die Sache schwieriger.« Er blätterte durch die Karteikarten. »Sehen Sie? Oben auf den Karten sind nur die Namen der Haushaltsvorstände aufgeführt. Kinder und Ehefrauen sind nicht separat ausgewiesen. Und ob wirklich alle Kinder da eingetragen sind – dafür würde ich meine Hand auch nicht ins Feuer legen.«
Rath seufzte, Charly hingegen machte sich gleich an die Arbeit.
Wie sich herausstellte, gab es genau97 Familien Reinhold in Berlin. Rechnete man noch die dazu, die sich mit dt schrieben, sogar über hundert. Rath konnte seine Skepsis nicht verbergen.
»Und da sollen wir ein Mädchen namens Alex finden?«, sagte er, doch Charly ließ sich nicht beirren und las bereits die erste Karteikarte.
Sie fanden genau fünf Reinholds und einen Reinholdt, in deren Familie eine Alexa, Alexandra oder Alexia ausgewiesen war.
»Und du kannst nicht einmal sicher sein, ob wirklich alle Eltern ihre Alex dort haben eintragen lassen«, sagte Rath. »Willst du alle Reinholds in Berlin besuchen? Viel Spaß!«
Charly antwortete nicht. Sie blätterte bereits wieder durch die Karteikarten und begann, noch weitere auszusortieren.
»Was machst du da?«, fragte Rath.
»Ich denke, sie kommt aus dem Osten, aus Friedrichshain oder Lichtenberg. Wenn wir mit diesen Adressen anfangen, ist es schon viel weniger.«
Es blieben alles in allem immer noch rund ein Dutzend. Rath hatte zunächst an einen Witz gedacht, als Charly davon zu reden anfing, die Adressen heute noch abzuklappern, doch dann merkte er, dass es ihr ernst war. »Es ist bereits halb sieben«, protestierte er, »die Leute essen gerade zu Abend, und in ein paar Stunden liegen sie im Bett!«
Sie sagte nichts, ihr Blick war Antwort genug und erstickte jeden Widerspruch im Keim. Rath seufzte und zückte seinen Bleistift. Dann fing er an, die ersten Adressen aus der Kartei in sein Notizbuch zu übertragen. »Gut«, sagte er, »aber dann teilen wir uns, dann sind wir schneller durch.«
Charly lächelte ihn an, und Rath wurde einmal mehr klar, dass er alles tun würde für dieses Lächeln. Adressen abklappern war da noch die leichteste Übung.
29
A uf der Straße vor dem Krankenhaus empfing ihn ein unerwartet heftiger Wind, der bis auf die Haut drang. Dennoch entschied er sich gegen ein Taxi. Er hätte sich jetzt nicht auf die Polster eines Autos fallen lassen können, dazu verspürte er eine vielzu große Unruhe. Gehen half. Gehen half immer. Goldstein zog eine Camel aus der Schachtel. Der Wind machte das Anzünden der Zigarette zu einem Geduldsspiel, erst mit dem Mantelkragen als Windschutz bekam er es hin. Er steckte das Feuerzeug wieder ein und machte sich auf den Weg.
Die Augen des alten Mannes schauten ihn immer noch an. Die Augen eines Mannes, der wusste, dass er bald sterben würde, und den dieses Wissen nicht aus der Ruhe bringen konnte. Wie viele Menschen erkannten nicht, dass ihre Zeit gekommen war? Und wenn sie es erkannten, wollten sie es nicht wahrhaben, klammerten sich bis zum Schluss an ihr Leben. Die meisten Menschen hatten den Tod einfach nicht auf ihrer Rechnung, und wenn er dann trotz allem kam, unaufhaltsam, blieb ihnen nichts als die pure, blanke Überraschung und die erschreckende Erkenntnis, dass nun alles vorbei war.
Goldstein hatte die Badstraße erreicht. Hinter dem Restaurant, in dem er vorhin gesessen und gewartet hatte, führte die Straße über einen kleinen, schnurgeraden Bach. Er blieb auf der Brücke stehen, zog noch ein paarmal an seiner
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