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Golem stiller Bruder

Golem stiller Bruder

Titel: Golem stiller Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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Buch der Schöpfung und das Buch der Heilkunst. Damit war er imstande, die größten Geheimnisse der Natur zu erforschen und alle Krankheiten zu heilen.
    Maimonides hatte einen Schüler, Menasse, und die beiden waren unzertrennlich. Sie arbeiteten gemeinsam, und wenn der eine sich nicht zu helfen wusste, stand ihm der andere bei. Eines Tages nun sagte Maimonides zu ihm: ›Du hast mich fast überflügelt, drum wollen wir vereint einen Weg verfolgen, den frühere Geschlechter nicht zu gehen gewagt haben, und das große Rätsel der Schöpfung lösen.‹
    ›Herr und Meister‹, antwortete der Schüler, ›ich bin noch zu jung, ich verstehe das Wahre vom Falschen nicht zu unterscheiden, ich weiß nicht, wie weit es dem Geist erlaubt ist, in die heiligen Geheimnisse der Natur einzudringen. Es scheint mir eine Vermessenheit, so etwas könnte den Zorn des Schöpfers erregen.‹
    Der Meister antwortete, alles gehöre dem menschlichen Geist an, er könne es benutzen, wie er wolle, Himmel, Erde, Luft, Wasser und Feuer seien ihm untertan, der Ewige selbst habe ihm die Elemente in die Hand gegeben, auf dass er forsche, bis er die Wahrheit finde und die Welt selbst erschaffen könne.
    Für den Schüler klang es wie eine Lästerung des Höchsten, doch aus Furcht, sein Meister könne ihn verstoßen, erklärte er sich zu allem bereit.
    Maimonides schlug einen Folianten auf und deutete auf eine Stelle: ›Hier heißt es: Töte einen gesunden Menschen, zerstückle seinen Körper und bringe die Teile an eine luftdichte Stelle. Wenn du eine Essenz aus dem Saft der Lebenspflanze und dem Balsam der Unsterblichkeit und dem Extrakt der Blume der Riesenstärke daraufträufelst, so wird dieser zerstückelte Körper nach neun Monaten wieder belebt werden und hinfort unverletzbar und unsterblich sein. Das wollen wir versuchen.‹
    Der Schüler schauderte zurück, doch Maimonides bestand auf diesem Experiment und schlug vor, durch das Los entscheiden zu lassen, wer von ihnen beiden das Opfer werden solle. Zuvor jedoch schworen sie beim Namen des Ewigen, dass, wenn dieses Unternehmen gelingen solle, der Leben de die toten Stücke reifen lasse und nicht, aus welchen Gründen auch immer, das Gefäß vor der Zeit zerschlagen dürfe.
    Das Los wurde geworfen und es fiel auf den Schüler.
    Maimonides stieß ein Messer in das Herz des armen Jünglings, zerstückelte die Leiche, beträufelte sie mit der vorgeschriebenen Essenz und steckte sie unter einen Glassturz.
    Nicht lange nach dieser Tat erwachte das menschliche Gefühl in ihm, sein Gewissen verfolgte ihn Tag und Nacht. Doch erst nach vier Monaten wagte er nachzuschauen. Und siehe da, die Glieder ordneten sich bereits. Im fünften Monat konnte man schon die Form des menschlichen Körpers erkennen. Nun war Maimonides überzeugt, dass in seinem Schöpfungsbuch die Wahrheit stand.
    Zugleich aber wuchs in ihm das Grauen vor den Folgen. Er dachte: Welches Unheil droht der Menschheit, wenn ich ihn, der jetzt noch unter dem Glassturz liegt, zur völligen Reife gedeihen lasse? Was geschieht, wenn dieser ewig lebende Mensch mit all seiner Kraft unter seinen Brüdern umherwandelt? Wird man ihn nicht vergöttern? Wird das Gesetz Mose nicht in Vergessenheit geraten? Und er sah schon voraus, wie sich die Völker versammelten, um Krieg gegeneinander zu führen, und wie Menschenblut floss für den neuen Gott.
    Er besprach sich mit dem Rat der großen Versammlung und trug ihnen seinen Fall vor, doch derart, dass sie glaubten, es handle sich um ein spitzfindiges Problem, dass er sich nur ausgedacht habe, und fragte sie, ob man in einem solchen Falle seinen Schwur brechen dürfe.
    Nach langem Disputieren kamen sie zu dem Schluss: Um größeres Unheil für die Menschheit zu verhüten und Gottes Ehre zu retten, dürfe man seinen Schwur brechen und einen solchen Menschen töten. Dabei stützten sie sich auf eine Stelle in der Thora, wo gesagt wird, zur rechten Zeit für Gott zu handeln, sei das wichtigste Gesetz, was so zu verstehen sei: Man müsse einen Eid nicht halten, wenn dadurch Gott entheiligt würde.
    Am Anfang des neunten Monats trat Maimonides in die Kammer mit dem Glassturz, aus dem ihm sein wiederbelebter Schüler entgegenlachte. Da erhob er den Hammer, den er in den Händen hielt.
    ›Rabbi, hast du deinen Schwur vergessen?‹, kam die Stimme des Schülers unter dem Glas hervor und er schlug zu. Das Gefäß zersprang in tausend Stücke und eine leblose Fleischmasse lag vor Maimonides.
    Er begrub die

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