Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Golem stiller Bruder

Golem stiller Bruder

Titel: Golem stiller Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
Vom Netzwerk:
zu holen. Und plötzlich fuhr mir der Schreck durch den Leib, denn mir wurde klar, dass auch ich viel seltener an meinen Vater dachte als früher und, schlimmer noch, dass ich bereits anfing zu vergessen, wie er aussah.
    Ich bückte mich, packte sie an den schmalen Schultern. »Rochele«, sagte ich eindringlich, »Rochele, unser Vater ist Srulik, der Bücherverkäufer, verstehst du mich?«
    Sie nickte verängstigt.
    »Und unsere Mutter, ihr Andenken gereiche uns zum Segen, war Rachel, deren Mutter Rosa aus dem fernen Worms nach Böhmen gekommen war. Nach ihrem Tod hat unsere Tante Schejndl, der Herr schenke ihr Gesundheit und ein langes Leben, für uns gesorgt, doch nun ist sie selbst krank, deshalb hat sie uns nach Prag geschickt, zu unserem Onkel, dem Hohen Rabbi Löw. Denn unser Vater ist vor vielen Monaten mit seinen Büchern losgezogen und bis heute nicht wiedergekommen …« Bei den letzten Worten hatte ich angefangen, sie zu schütteln. »Vielleicht ist er krank geworden, es kann nur eine Krankheit oder sonst etwas Schlimmes sein, das ihn davon abgehalten hat, zu uns zurückzukommen.«
    Ich konnte nicht aufhören, sie zu schütteln, ich war wie besessen. Sie war blass geworden und fing an zu weinen. Frume kam mit zornigem Gesicht aus der Küche gelaufen und nahm sie auf den Arm, und Rochele, meine süße kleine Schwester, drückte das Gesicht an den Hals der Frau, wie sie es früher an Tante Schejndls Hals gedrückt hatte oder an meinen.
    »Es tut mir leid, Rochele, ich wollte dir nicht wehtun«, sagte ich und berührte ihre braunen Locken.
    Frumes Gesicht wurde weicher. »Geh jetzt«, sagte sie. »Sie wird sich wieder beruhigen. Sie wird verstehen, dass du es nicht böse gemeint hast.«
    Bevor ich das Haus verließ, richtete ich Jizchak die Nachricht von Rabbi Löw aus und auf dem Rückweg ging ich an der Schul vorbei und sagte Schimon Bescheid.
    D ie Dämmerung senkte sich auf die Judenstadt, als Jankel, von einer seltsamen Wehmut gepackt, durch die Gassen lief. Er grüßte und wurde gegrüßt, er kannte jedes Haus, an dem er vorbeikam, von vielen kannte er die Bewohner und wusste, ob sie am Schabbat fettes Fleisch essen konnten oder sich mit ein paar mageren Knochen begnügen mussten. Er kannte die Händler, die gerade ihre Waren in die Gewölbe räumten, er wusste, dass die Frau von Berl, dem Alteisenverkäufer, nach vier Töchtern vor einigen Tagen einen Sohn geboren hatte, er möge leben und gesund sein, und dass Schmiel, der Stoffhändler, seine Tochter unlängst mit einem Goldschmied verlobt hatte, nachdem ihr erster Bräutigam kurz vor der geplanten Hochzeit an einem tückischen Fieber gestorben war. Er kannte die Gerüche nach heißem Fett und Zimt, nach Käse und Fisch, nach Kräutern, Knoblauch und Zwiebeln. Er kannte auch den modrigen Geruch alter Kleidungsstücke und den Gestank nach faulenden Fischen und Abfall, der manchmal von der Moldau herauf in die Gassen wehte. Er war kein Fremder mehr, er gehörte hierher.
    Zu Hause hatten Tante Perl und Jente das abendliche Mahl schon vorbereitet, eine Suppe aus dicker Milch und dazu Teigtaschen, gefüllt mit süßem Käse und Rosinen, aber er hätte an diesem Abend ebenso gut Stroh kauen können und war schnell satt. »Bist du krank?«, fragte Jente und legte ihm die Hand auf die Stirn, und zu Tante Perl sagte sie: »Er wächst viel zu schnell, er muss genug essen.«
    Bald nach dem Abendgebet, am Himmel standen schon viele Sterne, klopften Jizchak und Schimon an die Tür. »Nein, komm mit«, sagte der Rabbi, als Jankel in seine Kammer gehen wollte. »Komm mit, du gehörst zu uns.« Jankel folgte ihnen zum Studierzimmer. Der Rabbi zündete eine Kerze an, sie setzten sich an den großen Tisch. Jente brachte ihnen einen Krug mit Wasser und Gläser und stellte eine Schale mit Nüssen und Rosinen auf den Tisch.
    I ch war noch immer bedrückt, weil ich Rochele zum Weinen gebracht hatte, ich verstand nicht, was über mich gekommen war. Wenn ich selbst schon dabei war, die Vergangenheit zu vergessen, wie konnte ich es ihr dann vorwerfen? Sie war doch noch so klein. Ich schämte mich für meine Unbeherrschtheit und dachte daran, was Tante Schejndl immer gesagt hatte: Ein Geduldiger ist besser als ein Starker, und wer sich selbst beherrscht, ist besser als einer, der Städte gewinnt. Ich überlegte, wie ich es Rochele erklären sollte, mit welchen Worten, damit sie mich richtig verstand und mir nicht mehr böse war.
    I ch habe euch hergerufen«, sagte der Rabbi,

Weitere Kostenlose Bücher