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Golem stiller Bruder

Golem stiller Bruder

Titel: Golem stiller Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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erschien mir interessanter und spannender, als es in Mo ř ina je gewesen war, doch sobald ich mich zum Schlafen hinlegte, tauchten in meinem Kopf viele Gedanken auf, die ich tags über nur halb oder gar nicht gedacht hatte, und ich konnte mich nicht von der Vorstellung befreien, dass ich mit diesem Ungeheuer unter einem Dach lebte. Die gleichen Gefühle bedrängten mich, die ich an jenem Abend empfunden hatte, als ich Josef das erste Mal gesehen hatte: Angst und Grauen. Sogar wenn ich mich daran erinnerte, wie Josef sich an jenem Abend den Angreifern entgegengestellt hatte, war meine Bewunderung nicht frei von Grauen.
    Doch allmählich mischte sich Neugier in das Grauen, ich wollte wissen, warum der Hohe Rabbi jeden Abend zu ihm hinaufging. Ich fragte mich, wo er aß, wo er sich wusch, was er den ganzen Tag tat. Und ich wollte wissen, was es mit diesem Mann eigentlich auf sich hatte, über den niemand sprechen wollte, den alle möglichst übersahen, nicht nur bei uns im Haus, sondern auch auf den Gassen, wo niemand ihn anschaute, aber alle einen Bogen um ihn machten. Das Seltsamste war, dass die Kinder nie mit dem Finger auf ihn zeigten, und nie hatte ich gesehen, dass Knaben ihm hinterherliefen und ihn verspotteten. Alle verhielten sich so, als gäbe es ihn gar nicht, als wäre er nur ein lebloses Hindernis, das ihnen im Weg stand.
    Je mehr ich darüber nachdachte, je öfter ich den Rabbi hinaufgehen hörte, umso größer wurde meine Neugier und umso geringer das Grauen. Du bist zu neugierig, hatte Tante Schejndl oft genug zu mir gesagt, wenn ich wissen wollte, warum sie nicht noch einmal geheiratet hatte, warum unser Nachbar sein Pferd verkaufte, das er doch so liebte, warum die Hochzeit eines Mädchens, die groß angekündigt worden war, plötzlich abgesagt wurde. Ich hörte ihre Stimme: Zügle deine Neugier, Jankel, zu große Neugier bringt Unheil. Sie ist etwas, wogegen man ankämpfen muss. Denk daran, durch Evas Neugier wurden die ersten Menschen aus dem Garten Eden vertrieben. Und noch etwas sollst du dir merken: Ein Geheimnis, das einem nicht freiwillig verraten wird, birgt einen giftigen Stachel in sich. Du musst gegen deine Neugier ankämpfen.
    Ich dachte auch an Rochele, die nun in einem anderen Haus schlief, und sah sie vor mir, wie sie auf der Seite lag, die eine Hand unter die Wange geschoben, die dann, wenn sie aufwachte, rot war wie ein Apfel im Herbst. Ich konnte mich nicht an ihre Abwesenheit gewöhnen. Morgens, wenn der Schlaf sich langsam von mir löste, tastete ich, bevor ich die Augen aufmachte, mit der Hand neben mich, wie ich es jahrelang getan hatte, und erschrak jedes Mal aufs Neue darüber, dass sie nicht da war, erst dann wurde ich richtig wach. Aber abends fehlte sie mir am meisten. Ich war sicher, wenn sie neben mir gelegen und ich ihre Atemzüge gehört hätte, wäre es mir nicht schwergefallen, ruhig einzuschlafen. Dann hätte die Neugier nicht von innen an mir genagt wie ein böses Tier, das von Tag zu Tag größer und gefräßiger wurde.
    D roben, im Stockwerk über ihm, ging die Tür des Studierzimmers auf und die Schritte des Rabbis waren zu hören, der durch den Flur zur Kammer ging, in der er mit seiner Frau Perl schlief. Als diese Tür ebenfalls zugefallen war, streckte sich der Junge auf seinem Lager aus und schloss die Augen. Im Haus war es still. Auch draußen, in der Judenstadt, war es still, die Menschen schliefen, die Tauben schliefen, die Möwen schliefen. In Mo ř ina hatte er oft Kühe gehört, Nachtvögel, das Gebell von Füchsen oder das Quaken von Fröschen aus dem nahen Weiher und im Winter das Heulen der Wölfe in den Wäldern. Hier gab es nur das Rascheln von Mäusen, und ab und zu schrien und fauchten Kater, die um die Gunst einer rolligen Katze kämpften, oder es bellte mal ein Hund. Zu Hause in Mo ř ina war es nie so still gewesen wie hier in der großen Stadt, doch diese Stille war nicht friedlich, sondern angespannt und bedrückend.
    Jankel wartete noch eine Weile, dann stand er auf und zündete die Kerze an, die er neben seinem Bett stehen hatte. Leise schlich er die Treppe hinauf. Er hielt sich am Rand der Stufen, da, wo die Dielen weniger knarrten, setzte erst die Ferse auf, bevor er langsam, um jedes Geräusch zu vermeiden, den Fuß abrollte. Lautlos bewegte er sich Stufe um Stufe nach oben, bis er den ersten Stock erreicht hatte.
    A us Jentes Kammer hörte ich sanft rasselnde Atemzüge. Ich stellte mir vor, wie sie jetzt wohl auf ihrem Bett lag und

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