Golem stiller Bruder
betäubt stand Jankel auf, wie betäubt zog er seine Hose an, setzte sich die Kipa auf, nahm seinen Tallitbeutel und folgte dem rundlichen Talmudschüler hinauf zum Studierzimmer des Hohen Rabbis.
Schon als er durch die Tür trat, fiel ihm der Kerzenstummel ins Auge, denn die Bücher waren zur Seite geräumt, und die Kerze lag mitten auf dem Tisch, sodass man sie sofort bemerken musste. Das Blut wich aus Jankels Kopf, er blieb stehen, er wagte nicht, weiterzugehen.
Der Hohe Rabbi war seinem Blick gefolgt, nun schaute er den Jungen an. Sein Gesicht war ernst, ohne Zorn, aber auch ohne Zuneigung, es war ein forschender, unbeteiligter Blick, mit dem er ihn anschaute, frei von allen Gefühlen, ein Blick, unter dem es dem Jungen kalt wurde. »Komm herein«, sagte der Rabbi schließlich. Und auch seine Stimme war ausdruckslos und kühl.
Jankel trat ein, goss sich aus der Kanne Wasser über die Hände und bereitete sich auf das Gebet vor. Ohne zu überlegen, ahmte er alle Bewegungen nach, die der Hohe Rabbi und Schimon ausführten. Er verhüllte seinen Kopf mit dem Tallit, er wickelte die Tefillin um seinen linken Oberarm, legte die Gebetskapsel an den Kopf und schlang das Ende des Riemens dreimal um seinen linken Mittelfinger. Dabei bewegte er den Mund, als würde er die dazugehörigen Segenssprüche sprechen, doch kein Ton kam über seine Lippen, nur die murmelnden Stimmen des Rabbis und Schimons waren zu hören.
I ch konnte mich nicht konzentrieren, weder auf die Segenssprüche noch auf das Gebet, obwohl ich wusste, dass das eine Sünde war, denn es steht geschrieben: Du sollst den Herrn lieben mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele und mit allen deinen Kräften . Aber die Gedanken wimmelten in meinem Kopf herum wie aufgeschreckte Ameisen. Warum sagte keiner, dass Josef tot war? Die Kerze verriet doch, dass der Hohe Rabbi oben gewesen war. Hatte er etwas mit Josefs Tod zu tun? Er, der Maharal von Prag, der von allen geachtete Hohe Rabbi Löw?
Ich wusste nicht, was ich glauben sollte, ich war noch immer gefangen in meinen Träumen, in denen ich mich wieder und wieder hinaufgeschlichen hatte in die Bodenkammer, in denen ich wieder und wieder den Toten gesehen hatte. In meinen Träumen hatte er manchmal die Augen aufgeschlagen und etwas Unverständliches gesagt, dann wieder hatte er geisterhaft drohend eine Hand gehoben und sie nach mir ausgestreckt, oder er hatte ein furchtbares Lachen gelacht, bei dem mir das Blut in den Adern gefror. Es waren schreckliche Träume gewesen und so lebendig, dass ich nicht mehr wusste, ob das, woran ich mich erinnerte, tatsächlich geschehen war oder ob mir meine Fantasie es nur vorgaukelte. Ich wollte es gar nicht wissen, ich wollte nicht wissen, wo die Grenze zwischen Wirklichem und Geträumtem verlief. Vielleicht ahnte ich damals bereits, dass es diese Grenze nicht gibt. Ich nahm meine ganze Kraft zusammen, um die Erinnerung an die Nacht zu verdrängen, doch auch dem Licht des Tages gelang es nicht, meine Gedanken zu erhellen. Und über all diesen wirren Gefühlen lag Angst, Angst vor dem Hohen Rabbi, vor dem, was er vielleicht getan hatte, und Angst vor der Strafe, die mir drohte.
A uch beim Morgenmahl schaute der Hohe Rabbi immer wieder zu dem Jungen hinüber, mit diesem seltsamen, gefühllosen Blick, unter dem Jankel sich jedes Mal zusammenzog. Doch das war das einzige Ungewöhnliche, ansonsten verlief alles, als wäre nichts geschehen, und alle verhielten sich, als wäre dies ein Tag wie jeder andere.
Perl, die Frau des Rabbis, besprach mit Jente die Vorbereitungen für das festliche Schabbatmahl. Jente solle gleich ein Huhn kaufen, sagte sie, ein schönes, fettes Huhn, das sie mit Kohl und Nüssen und Rosinen füllen wolle, und Jente solle auf dem Markt nach frischen Karotten schauen. Und auf keinen Fall dürfe sie die Kerzen zum Lichteranzünden vergessen, Wein für den Kiddusch* sei noch im Haus. Jankel hielt den Kopf gesenkt, er hörte die Stimmen seiner Tante und Jentes, die an seinen Ohren vorbeiplätscherten, und wartete darauf, die seines Onkels zu hören, aber Schimon und der Hohe Rabbi aßen schweigend.
I ch war steif, meine Hände bewegten sich, als würden sie mir nicht gehören, auch meine Kiefer kauten, als kaue ein anderer, und ich schluckte das Essen, ohne dass meine Zunge und mein Gaumen schmeckten, was ich aß. Ich konnte an nichts anderes denken als an den Toten, der da oben in der Bodenkammer lag, und wartete darauf, dass jemand etwas sagen würde.
Aber
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