Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Golem stiller Bruder

Golem stiller Bruder

Titel: Golem stiller Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
Vom Netzwerk:
sah nur entsetzt zu, wie der heiße Tropfen von seiner Hand auf die Wange des Mannes am Boden fiel. Doch das unwillkürliche Zucken der Muskeln blieb aus, nichts verriet, dass der Mann überhaupt etwas gespürt hatte.
    Jankel hörte sein Blut in den Ohren rauschen und das Herz schlug ihm bis zum Hals, aber er konnte sich nicht rühren. Er starrte dieses Gesicht an, das menschliche Züge trug und doch nichts Menschliches ausstrahlte, dem jedes Leben fehlte, jeder Hauch der Seele, die im Antlitz eines Menschen sichtbar wird. Es war, wie geschrieben steht: Seine Seele war gebeugt zum Staube, sein Leib lag zu Boden .
    Da entdeckte er auf einmal neben der leblosen Hand des Mannes einen Zettel. Ohne nachzudenken, bückte er sich, ergriff den Zettel und las, was in den Schriftzeichen der heiligen Sprache darauf geschrieben stand: Elohim emet . Gott ist wahr.
    Entsetzen packte ihn, das Erschrecken lähmte seine Füße, stieg in ihm auf und drückte ihm fast das Herz aus dem Leib. Übelkeit würgte ihn in der Kehle, sodass er kaum Luft bekam. Ein röchelnder Atemstoß entrang sich seinen Lippen und löschte die Kerze, auf einmal war es dunkel. Die Kraft verließ seinen Körper, seine Hände öffneten sich, der Kerzenstummel und der Zettel fielen zu Boden.
    Endlich konnte er sich wieder bewegen, er drehte sich um und stolperte, eine Hand tastend an die Wand gelegt, erst die Stiege hinunter, dann die Treppe. Das Knarren der Dielen dröhnte in seinen Ohren wie zorniges Donnern und vor seinen Augen zuckten Blitze und zerschnitten seinen Kopf. Aber niemand machte die Tür auf, keiner fragte, was denn mitten in der Nacht hier los sei.
    Als er seine Kammer erreicht hatte, schloss er die Tür hinter sich und sank auf sein Bett.
    M ein Körper wurde wie von einem Fieber geschüttelt, mein Kopf war leer. Noch nie hatte ich so etwas gesehen, hätte es mir auch in meinen schlimmsten Alpträumen nicht vorstellen können. Josef war tot, doch es war kein Tod, bei dem man die Klageweiber und die Mitglieder der Beerdigungsbrüderschaft rief, um den Toten zu waschen und die Beerdigung vorzubereiten, das wusste ich, ohne zu verstehen, woher dieses Wissen kam. Hatte der Hohe Rabbi Löw, mein Onkel, etwas damit zu tun? Trug er die Schuld an Josefs Tod? Und was bedeuteten die Worte auf dem Zettel? Gott ist wahr. Natürlich ist Gott wahr, trotzdem hatte ich das Gefühl, dass sich hinter diesen Worten noch etwas anderes verbarg, etwas Gefährliches.
    Aber ich wollte es nicht wissen, ich wollte gar nichts mehr wissen, Tante Schejndl hatte recht mit ihrer Mahnung, dass ein Geheimnis, das einem nicht freiwillig verraten wird, einen giftigen Stachel in sich birgt. Der Stachel hatte mich getroffen und meinen Leib vergiftet, warum sonst war er so heiß, warum sonst schmerzte jede Faser meines Körpers? Und plötzlich schoss es mir durch den Kopf, dass ich die Kerze oben vergessen hatte, sie musste noch neben dem Zettel liegen. Und die Tür zur Bodenkammer hatte ich auch nicht hinter mir zugezogen. Aber keine Macht der Welt hätte mich jetzt dazu gebracht, noch einmal hinaufzugehen.
    Ich fing an zu weinen, wie ich früher, als kleiner Junge, geweint hatte. Aber das Weinen brachte mir nicht den Trost, den ich erwartet hatte, es besänftigte weder meine Seele noch meine Sinne. Am liebsten wäre ich auf der Stelle weggelaufen, geflohen aus diesem Haus, aus dieser Stadt, zurück nach Mo ř ina. Doch ich wusste, dass das unmöglich war, nicht nur, weil ich nicht mitten in der Nacht zum Haus des Toraschreibers gehen und Rochele holen konnte.
    Warum war ich nur hinaufgegangen? Warum hatte der Ewige, gelobt sei er, mich nicht davor bewahrt, einer dummen, kindischen Neugier zu folgen? Ich zog mir die Decke über den Kopf. Aber eine Decke, auch wenn sie aus der wärmsten Schafwolle gewebt worden war, bot keinen Schutz gegen die Angst, die mich von innen her ausfüllte, die aus meinen Poren drang und sich ausdehnte, bis sie das Zimmer erfüllte, die ganze Welt.

7. Kapitel
Du bist nicht allein
    D er Schlaf des Gerechten ist frei von Furcht und Bedrückung, er weiß sich in der Hand dessen geborgen, der das Licht von der Finsternis schied und das Licht Tag nannte und die Finsternis Nacht, doch ein Mensch, dessen Herz schwer ist und dessen Hand Unrecht getan hat, wird sich vergeblich nach erquickendem Schlaf sehnen.
    Eine Taube gurrte vor dem Fenster, als Schimon den Jungen beim Morgengrauen heftiger als sonst und mit groben Händen aus dem Schlaf rüttelte. Wie

Weitere Kostenlose Bücher