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Golem stiller Bruder

Golem stiller Bruder

Titel: Golem stiller Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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schlief, mit einem entspannten Gesicht, das von ihren ungebärdigen roten Haaren umgeben war, sodass es aussah, als läge sie mit dem Kopf auf der untergehenden Sonne. Vielleicht schlief sie mit halb offenem Mund, wie Tante Schejndl es immer tat, und vielleicht zuckten ab und zu ihre Glieder, wie Rocheles Glieder im Schlaf zuckten, wenn ein Traum ihre Seele gefangen hielt.
    Vor der Kammer, in der der Hohe Rabbi Löw und seine Frau Perl schliefen, blieb ich stehen und lauschte gespannt. Der Rabbi schnarchte, wie mein Vater immer geschnarcht hatte, von dem Tante Schejndl sagte, er habe einen schweren Schlaf. Es war ein sanftes, freundliches Geräusch, das manchmal abbrach und dann wieder einsetzte, und von Zeit zu Zeit änderte es den Rhythmus. Ich liebte diese Schlafgeräusche, ich hatte sie immer geliebt, sie gehörten zur Nacht, sie beruhigten mich und machten das Haus sanft und friedlich. Sie waren besänftigend wie die Wiegenlieder, die Mütter für ihre Kinder singen und die Tante Schejndl früher immer für Rochele gesungen hatte.
    D ann stand Jankel vor der Tür zur Bodenkammer und lauschte. Kein Ton drang heraus. Vorsichtig legte er das Ohr an das Holz. Es war still, bis auf das Flackern der Kerze in seiner Hand war nichts zu hören, es war, als wäre die Kammer leer. Es war sogar so still, dass er das Rascheln und Trippeln von Mäusen auf dem Dachboden und das Knacken des Gebälks wahrnahm. Doch hinter der Tür blieb es ruhig. Er wusste, dass es besser wäre, jetzt umzukehren, doch zugleich wusste er, dass dies ein müßiger Gedanke war, er konnte nicht mehr zurück, die Neugier hatte von ihm Besitz ergriffen, wie ein Dibbuk war sie in ihn gefahren, machte sich in seinem Körper breit und übernahm die Herrschaft.
    Lange stand er so da, doch er hörte nichts mehr, selbst die Mäuse schienen atemlos zu lauschen. Er stellte vorsichtig die Kerze neben der Tür auf den Boden, griff nach der Klinke, die sich trocken und kühl und wulstig anfühlte, und drückte sie langsam nach unten, bis sich die Tür handbreit aufschieben ließ. In der Kammer war es dunkel und totenstill. Wie unter Zwang stieß er die Tür noch ein Stück weiter auf. Plötzlich flatterte etwas an ihm vorbei, er spürte den leichten Luftzug an seiner Wange und erstarrte, bis er verstand, dass es eine Fledermaus war, die er durch sein Eindringen gestört hatte. Es war auch nicht so dunkel in der Kammer, wie er zuerst geglaubt hatte, durch die Dachluke drang graues Licht und traf sich mit dem Schein der Kerze, der durch die Tür hereinfiel.
    Jankel machte einen Schritt in die Kammer hinein und zuckte zurück, sein Fuß war gegen einen Gegenstand gestoßen. Er schaute zu Boden und der Schreck fuhr in seine Glieder und machte sie steif. Vor ihm auf dem Fußboden lag die klobige Gestalt Josefs, bewegungslos und starr.
    Er erwartete, dass der riesige Mann im nächsten Moment aufspringen würde, meinte schon zu spüren, wie die schaufelgroßen Hände seine Schultern packten und zerquetschten. Aber nichts geschah. Als sich sein Atem beruhigt hatte, drehte sich Jankel zögernd um, nahm die Kerze und trat näher, den Blick auf die Brust des Mannes gerichtet, die von keinen Atemzügen gehoben oder gesenkt wurde, nur das Kerzenlicht flackerte über die leblose Gestalt bis hinauf zu dem Gesicht mit den geschlossenen Augen unter diesen dichten, zusammengewachsenen Augenbrauen.
    Angst ergriff Jankel, aber er konnte sich nicht abwenden. Es war der Dibbuk, der ihn zwang, sich über den Mann zu beugen, der starr und steif auf dem Boden lag. Im Gegensatz zu dem bekleideten Körper, dessen Konturen sich deutlich abhoben, sah das Gesicht aus, als verschwimme es in den Holzdielen des Untergrunds. Es war fahlgelb und matt, die Haut war glatt und zeigte keinen Pickel, keinen Leberfleck, keine vergrößerten Poren an den Nasenflügeln und am Kinn, sie erinnerte eher an getrockneten Lehm, und die an den Rändern ausgefransten Lippen waren ebenso fahl wie das Gesicht und schienen sich in der Haut aufzulösen. Der Mann war nicht nur bartlos, er besaß auch keine Wimpern, die einen Schatten auf die Wangen geworfen hätten, er hatte nur diese dichten Augenbrauen und Haare von einer unbestimmbaren Farbe.
    Jankel beugte sich noch tiefer, um besser sehen zu können, dabei kippte die Kerze in seiner Hand zur Seite, und plötzlich rollte ein Tropfen heißes Wachs an der Kerze herab und über seine Finger. Er erschrak so sehr, dass er das Brennen auf seiner Haut nicht spürte, er

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