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Golem stiller Bruder

Golem stiller Bruder

Titel: Golem stiller Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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niemand sagte ein Wort. Inzwischen hatten auch Tante Perl und Jente aufgehört zu sprechen, alle schwiegen. Es war ein bedrohliches Schweigen, eine Stille, wie sie manchmal kurz vor einem Unwetter zu spüren ist. Eine Stille, in der man am liebsten laut schreien würde und genau weiß, dass auch ein leises Stöhnen schon zu laut wäre. Eine Stille, in der man glaubt, die Staubkörner flirren zu hören.
    In diese Stille hinein waren plötzlich draußen auf der Treppe Schritte zu hören, laute Schritte, die unheilvoll dröhnten. Ich riss den Kopf hoch, mir wurde schwarz vor den Augen, ich röchelte, als drücke mir eine Geisterhand den Hals zu. Die Schritte liefen durch den Gang. Ich starrte entsetzt zur Küchentür, denn ich erwartete, dass sie im nächsten Augenblick aufgehen und ein Gespenst hereinkommen würde. Aber es war die Haustür, die laut ins Schloss fiel. Ich schnappte nach Luft wie einer, der im nächsten Augenblick tot umzusinken droht.
    »Warum machst du denn so ein Gesicht?«, fragte Jente erstaunt. »Das war doch nur Josef.«
    Meine Augen brannten, mein Kopf war leer und meine Kehle ausgetrocknet, die Zunge klebte mir am Gaumen. Ich war außerstande, etwas zu sagen, ich war sogar außerstande, einen Gedanken zu denken.
    Auch der Rabbi hatte sein Brot hingelegt. Er schaute jedoch nicht mich an, sondern Schimon, als er laut und mit einem ernsten, fast drohenden Ton sagte: »Die Welt birgt viele Geheimnisse, und die Menschen versuchen immer wieder, diese Geheimnisse zu ergründen. Doch der Kluge weiß, dass man über manche Geheimnisse Stillschweigen bewahren muss, um Unheil zu verhüten. Der Sohn des Gelehrten Gamliel sagte: Alle meine Tage bin ich unter Weisen groß geworden und habe für den Körper nichts Besseres als Schweigen gefunden; nicht Studium ist die Hauptsache, sondern das Ausüben; wer viel redet, bringt Sünde mit sich .«
    Schimon nickte, Tante Perl stand auf, um sich einen Becher Wasser zu holen, Jente schaute den Rabbi mit großen Augen an und ich senkte den Kopf. Ich hatte verstanden, wusste aber nicht genau, was ich verstanden hatte.
    E ndlich sprach der Rabbi das Gebet, und Jankel verließ das Haus so überstürzt, als wären Dämonen hinter ihm her. Er rannte den ganzen Weg bis zur Bäckerei, nicht nur, weil heute Markt in der Altstadt war und er Schmulik helfen sollte, wie er es in der vergangenen Woche bereits getan hatte, sondern um den Abstand zum Haus des Hohen Rabbis möglichst schnell zu vergrößern. Er wollte diesen Blicken entfliehen, der Erinnerung an die letzte Nacht. In seinen Ohren dröhnten immer noch die Schritte auf der Treppe und durch den Gang, das Klappen der Haustür.
    »Was ist mit dir?«, fragte Mendel, als er keuchend in der Backstube ankam. »Du siehst aus wie ein Geist oder wie einer, der einen Geist gesehen hat.«
    D as hatte ich auch. Ich hatte einen Geist gehört, einen Toten, der morgens wieder die Treppe heruntergekommen war und das Haus verlassen hatte, als wäre nichts geschehen, als hätte er nicht in der Nacht zuvor als lebloser Klotz in der Bodenkammer gelegen. Ich konnte Mendel nicht antworten, mir war, als wäre meine Stimme eingefroren und könnte nie mehr auftauen, ich fühlte mich vergiftet. Ich wünschte mir, der Rabbi hätte mich bestraft, ich hätte jede Strafe gern auf mich genommen, in der Hoffnung, dann das Geschehene aus meinen Gedanken schieben zu können. Als ich ein Kind war, war nach einer Strafe alles wieder in Ordnung. Hatte ich mein Vergehen gesühnt, war alles vergessen und Tante Schejndl hatte sich wieder so freundlich verhalten wie immer. Aber ich war kein Kind mehr, und es gab keinen, der mich strafen und dadurch die Last von meinem Gewissen nehmen konnte.
    W as ist mit dir?«, fragte auch Schmulik. Aber Jankel antwortete nicht. Wie ein Schlafwandler half er, den Karren für den Markt vollzuladen, trug Brotlaibe aus der Backstube, stellte einen Sack mit Fladen auf den Karren.
    »Hier, die Kinderbejgl«, sagte Mendel und legte einen kleinen Sack mit Kinderkringeln, die sie gestern noch gebacken hatten, zu den Brotlaiben und den Fladen auf den Karren. Er strich sich über den Bart. »Ich bin gespannt, ob ihr sie verkaufen könnt.«
    »Bestimmt«, sagte Schmulik. »Das war eine gute Idee von Jankel.«
    »Eine kindische Spielerei, mehr nicht«, murrte Anschel und stieß verächtlich die Luft aus.
    Jankel antwortete ihm nicht, nur Schmulik warf ihm einen zornigen Blick zu. Anschel drehte sich um, ergriff den Kess, öffnete die

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