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Golem stiller Bruder

Golem stiller Bruder

Titel: Golem stiller Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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Ofenklappe und schob die brennenden Holzscheite weiter nach hinten. Als er den Kess dann zum Löschen in den Wassereimer hielt, zischte und dampfte es wie in der Unterwelt.
    Fejgele, in einem neuen, blauen Kleid, kam mit einem Korb voller Wäsche in den Hof und wünschte ihnen viel Erfolg auf dem Markt. Schmulik wurde rot, er bedankte sich und winkte ihr vom Tor aus noch einmal zu, aber Jankel ging einfach an ihr vorbei, ohne etwas zu sagen.
    Wie ein Traumwandler lief er neben Schmulik her, wie ein Traumwandler half er, als sie auf dem Marktplatz angekommen waren, die Brotlaibe, die Fladen und die Kinderkringel zu ordnen und den Karren so herzurichten, dass er als Theke dienen konnte. Dann warteten sie auf Kunden.
    Schmulik hielt das Schweigen, das ihm unverständlich bleiben musste, offensichtlich nicht mehr aus. Besorgt betrachtete er seinen Freund. »Ich habe dir noch immer nicht die zweite Geschichte erzählt«, sagte er schließlich.
    »Welche Geschichte?«, fragte Jankel zerstreut.
    »Nun, wie die Altneuschul zu ihrem Namen kam. Willst du sie hören?«
    Jankel nickte. So zu tun, als höre er zu, war vielleicht einfacher, als den Blicken des Freundes auszuweichen, jedenfalls enthob es ihn der Verpflichtung, selbst etwas zu sagen.
    »Hör zu«, sagte Schmulik. »Die Prager Juden wollten ein Gotteshaus aus Stein bauen, darüber waren sie sich einig. Uneins waren sie nur über den Bauplatz. Nun gab es seit Menschengedenken einen steinigen Hügel mitten in der Judenstadt, auf dem nur Dornen und Disteln wuchsen, dort spielten die Kinder und gruben Höhlen in die Erde. Genau zu der Zeit, so sagt man, als die Erwachsenen stritten, wo die Synagoge gebaut werden solle, entdeckten die Kinder unter dem Erdreich behauene Steine, aufgeschichtet wie eine Mauer. Sie holten ihre Väter, um ihnen ihren Fund zu zeigen. Und die Väter sagten: ›Es ist, als hätte ein anderer den Bau bereits begonnen. Der Ewige, gelobt sei er, hat uns selbst gezeigt, wo die neue Synagoge entstehen soll.‹
    Die Nachricht verbreitete sich schnell in der Judenstadt, alle kamen gelaufen, und ein paar alte Frauen schworen, sie hätten am Vorabend Engel gesehen, die eine geheimnisvolle Last auf dem Hügel abgeladen und vergraben hätten. Und ein paar alte Männer behaupteten, die Engel hätten Steine vom zerstörten heiligen Tempel aus Jerusalem hergeflogen, aber nur unter der Bedingung, dass diese Steine am Ende aller Tage nach Jerusalem zurückgebracht werden müssten. ›Unter der Bedingung‹ heißt in der Sprache der Bibel ›al-t’naj‹, und weil sich das so ähnlich anhört wie alt-neu, wurde aus der Al-t’naj-Schul die Altneuschul.«
    »Es war also nur ein Missverständnis?«, fragte Jankel, und Schmulik nickte und sagte: »So ist es. Und jedes Missverständnis wirft Junge wie die Mäuse des Müllers, und niemand sieht ihnen später an, wo sie herkommen. Sie sehen dann aus wie alle anderen Mäuse.«
    Jankel antwortete nicht, er starrte schon wieder vor sich hin, und Schmulik gab den Versuch auf, ihn abzulenken oder in ein Gespräch zu ziehen. Doch er ließ den Freund nicht aus den Augen und stieß ihn ab und zu leicht mit dem Ellenbogen in die Seite, wie um zu sagen: Ich bin da, du bist nicht allein.
    A n jenen Vormittag kann ich mich kaum erinnern, ich bewegte mich wie schlafend, wie einer, dessen Seele entflohen ist und der auf ihre Rückkehr wartet. Bestimmt habe ich Schmulik geholfen, den Karren mit Brotlaiben zu beladen, bestimmt habe ich zugeschaut, wie er sich den Geldbeutel um die Mitte knotete, und bestimmt habe ich ihm geholfen, den Karren zum Marktplatz zu schieben und den Stand aufzubauen, und ich weiß sogar noch, dass er mir eine Geschichte von der Altneuschul erzählt hat. Aber das ist auch alles. Das Einzige, an das ich mich wirklich genau erinnere, ist die Wahrsagerin.
    N eben dem Karren des Bäckers, auf dem die beiden Jungen ihre Backwaren anboten, hatte sich eine Wahrsagerin eingerichtet. Eine Kiste diente ihr als Hocker, eine andere, mit einem blauen Tuch bedeckt, als Tisch, auf dem sie einen Stapel Karten mit bunten Bildern liegen hatte, die sie ab und zu aufblätterte, in kleinen Häufchen auslegte und wieder zusammenschob. Ihre Bewegungen waren gelassen und voller Würde. Außerdem lagen da auf dem Tisch noch eine Kristallkugel und ein paar Bögen mit Zahlenreihen. Auf dem Boden neben ihrem Hocker stand ein Weidenkorb.
    Die Wahrsagerin war bereits sehr alt, ihr Gesicht war von vielen Falten und Runzeln durchzogen,

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