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Golem stiller Bruder

Golem stiller Bruder

Titel: Golem stiller Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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unverständliche Worte in einer geheimnisvollen, dennoch seltsam vertrauten Sprache vor sich hin murmelte. Schließlich fächerte sie die Karten auf, hielt sie ihm umgedreht hin, sodass er die Bilder nicht sehen konnte, und hieß ihn, eine zu ziehen.
    Er tat es. Sie nahm die Karten, legte sie verdeckt auf den Tisch und schob, mit erneutem Gemurmel, den Fächer zusammen und verteilte die Karten auf sieben Häufchen, bevor sie sie wieder zusammenschob und ihn aufforderte, eine zweite Karte zu wählen. Erst dann drehte sie die beiden Karten um, die er gezogen hatte. Auf der ersten war das Bild eines Mannes zu sehen, der mit bloßen Händen den Rachen eines Löwen aufriss, auf der anderen zwei Gestalten in langen Gewändern, die dem Betrachter den Rücken zuwandten und die Köpfe vor einem Engel in der Bildmitte senkten.
    Ein zufriedener Ausdruck erschien auf dem Gesicht der alten Frau, sie fuhr sanft mit ihrem runzligen Zeigefinger über die erste Karte. »Meine innere Stimme hat mich nicht getäuscht«, sagte sie. »Dies ist die Karte der Kraft. Sie zeigt, dass du die Kraft hast, dunkle Wege zu beschreiten und über gefrorenes Wasser zu gehen, ohne dass es unter dir einbricht. Dein Mut und deine Geduld werden dir helfen, Angst und Gefahren zu überwinden, und die Nacht wird dich nicht schrecken.«
    Sie nahm den Finger von der ersten Karte und berührte die zweite. »Diese Karte steht für Liebe und Freundschaft, und außerdem zeigt sie an, dass du dich in einer Zeit der Veränderungen befindest. Vieles, was heute dunkel ist, wird morgen hell sein, und wo heute Nacht ist, ist morgen Tag. Du musst deine Seele für das Neue, das sich dir bietet, öffnen, und dein Herz für Zuneigung und Freundschaft bereithalten, dann wirst du Hilfe und Unterstützung finden. Veränderungen, mein Sohn, bringen nicht nur Gefahren mit sich, sie bieten auch die Möglichkeit zu neuem Glück.«
    Zärtlich hob sie die beiden Karten an ihre Lippen, bevor sie weitersprach: »Fürchte dich nicht vor Hindernissen, du kannst sie durch die Kraft deiner Seele und den Mut deines Herzens überwinden, du musst nur lernen, auf das zu hören, was Herz und Seele dir sagen.«
    Sie schwieg, dann legte sie die Hände auf die Schultern des verwirrten Jungen und fuhr mit einer ganz anderen Stimme fort zu sprechen: »Und höre auf den Rat einer alten Frau, mein Sohn: Mit einem Geheimnis zu leben ist schwer, aber glaube mir, ohne Geheimnisse wäre das Leben die ganze Mühe und Drangsal nicht wert. Jeder Mensch hat ein Recht auf Geheimnisse.«
    Jankel zögerte. »Und was ist, wenn man sich wegen eines Geheimnisses verstellen muss, wenn man vielleicht sogar gezwungen wird, zu lügen?«
    Da lächelte die alte Frau ein großes, sanftes Lächeln, das den Jungen einhüllte. »Jeder Mensch hat auch das Recht auf Lügen, mein Sohn. Geh jetzt. Und vergiss nicht, deine Augen offen zu halten, dann wirst du Zuneigung und Freundschaft finden.«
    Sie drehte ihm den Rücken zu, packte langsam und bedächtig die Karten, die Kugel und die Zahlentabellen in ihren Weidenkorb, legte das blaue Tuch darüber, winkte Jankel und Schmulik noch einmal flüchtig zu und verschwand in der Menge der Leute, obwohl der Markt noch nicht zu Ende war.
    Jankel schaute ihr lange nach, er fühlte sich noch immer wie verzaubert. »Was hat sie zu dir gesagt?«, fragte Schmulik neugierig, aber Jankel schüttelte den Kopf. »Das war nur für mich bestimmt«, sagte er.
    Die Kinderkringel waren schon alle verkauft. »Gut verkauft«, sagte Schmulik und klopfte sich zufrieden auf sein Hemd, unter dem sich der Geldbeutel befand. »Anschel wird Augen machen.« Dann kam eine Kundin, eine feine Dame, der zwei Dienstmädchen mit voll bepackten Körben folgten, und kaufte die letzten vier Brotlaibe und auch die noch verbliebenen Fladen. Ohne zu feilschen, bezahlte sie den Preis, den Schmulik verlangte.
    Sie machten sich auf den Rückweg zur Bäckerei, Schmulik schob den Karren, Jankel lief, in Gedanken versunken, neben ihm her. Als sie den Torbogen sehen konnten, der zum Hof mit der Backstube führte, ließ Schmulik die Griffe so plötzlich los, dass die vordere Karrenkante hart auf den Boden schlug. Er drehte sich zu Jankel um, der ebenfalls stehen geblieben war, und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Sag mir, was mit dir los ist«, bat er. »Hat dir jemand etwas getan? Ich merke doch, dass du verwirrt bist. Sag es mir, dann wirst du dich besser fühlen.« Und etwas verlegen fügte er hinzu: »Wozu hat man

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