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Golem stiller Bruder

Golem stiller Bruder

Titel: Golem stiller Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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doch in ihren langen schwarzen Haaren glänzten nur einzelne silbergraue Strähnen. Sie hatte sich Sterne in die Haare geflochten und auch ihr dunkelblaues Gewand war von Sternen übersät. Von Zeit zu Zeit blieb jemand vor ihr stehen, dann fächerte sie die Karten auf und ließ die Kunden eine oder mehrere herausziehen, die sie anschließend auf ihrem Tisch ordnete, oder sie griff nach der Hand des Kunden und betrachtete sie und manchmal zog sie auch die Kristallkugel zu Rate.
    Jankel achtete nicht auf sie, er achtete auf gar nichts, er bewegte sich wie im Traum, und wie im Traum zogen die Stunden an ihm vorbei. Bis die alte Frau plötzlich zu ihm trat, seine Hand nahm und sagte: »Komm mit, mein Sohn. Ich sehe, dass du in Not bist. Stelle mir die Frage, die dich bedrückt, vielleicht kann ich dir helfen.«
    M ir geschah etwas Seltsames, als sie meine Hände nahm. Die Berührung fing bei meinen Fingerspitzen an, lief über meine Arme durch meinen ganzen Körper und machte mich willenlos, ohne mich jedoch zu erschrecken, im Gegenteil, sie erfüllte mich mit einer Ruhe, wie ich sie lange nicht mehr empfunden hatte. Ich schaute die Frau an, die kaum größer war als ich, und ihre Augen, die dunkel aus den Falten und Fältchen herauswuchsen, hielten meinen Blick fest. Je länger ich in sie hineinschaute, umso größer schienen sie zu werden, bis ich das Gefühl hatte, in ihnen zu versinken wie in einem warmen Moorsee.
    Auf einmal glättete sich ihr Gesicht vor meinen Augen, die Falten und Runzeln verschwanden, die Augen wurden heller und glänzender, die Lippen voller, doch noch bevor ich Zeit hatte, mich zu wundern, verwandelte sich das Gesicht abermals, die Stirn wurde höher und runder, die Wangen blasser, die Augen größer und der Mund kleiner, und einen Augenblick lang sah ich ein Kind vor mir, ein hungriges, unglückliches Kind.
    Da war es aber auch schon wieder verschwunden, ich tauchte aus dem Moorsee auf und stand auf dem Markt, vor der alten Frau mit den Sternen in den Haaren und den Sternen auf dem Gewand. »Stell mir die Frage, die dich bedrückt«, hatte sie gesagt. Und ich fragte nicht: Wie komme ich hier weg? Wie kann ich dem Ganzen entfliehen? Und erst recht fragte ich nicht: Ist mein Onkel, dieser angesehene Rabbi, in Wirklichkeit ein Übeltäter? Ich fragte: Wie kann ich mit diesem Geheimnis leben? Und ich meinte damit: Wie kann ich unter seinem Dach wohnen? Wie kann ich Tag für Tag mit ihm umgehen?
    W ie kann ich mit einem Geheimnis leben?«, fragte Jankel. Die Frau drückte ihn auf die Kiste, auf der sie vorher gesessen hatte, kauerte sich vor ihm auf den Boden und ergriff seine linke Hand. Ihre Haut war kühl und trocken, das Fleisch so weich, dass er die Knochen darunter zu spüren meinte. Lange betrachtete sie seine Hand, fuhr mit ihrem Zeigefinger über seinen Daumenballen, über die Fingerkissen, sogar über seine Nägel, sie bog seinen Daumen ab, jeden einzelnen Finger, und kreiste mit ihrer Handfläche über seiner, so zart, dass er die Berührung nur als Hauch spürte. Dann hob sie seine Hand dicht vor ihre Augen und ließ sie erst nach einer ganzen Weile wieder sinken, um seine rechte Hand zu nehmen. Ihre Berührung war angenehm weich.
    Als sie seine rechte Hand auf die gleiche Art betastet und betrachtet hatte, ließ sie ihn los. Sie erhob sich geschmeidig wie ein junges Mädchen, glättete ihren Rock und schaute ihn lange an, so wie sie ihn zuvor angeschaut hatte, mit diesen Augen, in denen er versank, und dann sagte sie mit einer dunklen, geheimnisvollen Stimme, die nachhallte wie eine Glocke: »Ich sehe eine große Gabe in dir, ein Geschenk, das dir verliehen wurde: Du kannst in die Herzen der Menschen sehen, du kannst Dinge verstehen, die anderen verborgen bleiben. Noch ist diese Gabe ein Samenkorn in deiner Seele, aber das Korn wird aufgehen und wachsen und deine Empfindungen werden stark und groß werden und dein Leben reich machen. Das ist ein Geschenk, vielleicht das größte, das es gibt. Aber hüte dich, dieses Geschenk birgt auch Gefahren, denn wenn ein Mensch nicht genug innere Stärke besitzt, um diese Empfindungen zu ertragen, können sie sein Herz zerbrechen und seinen Geist töten.«
    Sie betrachtete ihn forschend. »Was glaubst du, mein Sohn, ist dein Herz groß genug? Ist deine Seele stark genug?« Ihre Stimme wurde immer dunkler, immer klingender.
    Jankel wagte nicht, zu atmen. Da drehte sie sich plötzlich um, ergriff die Karten und fing an, sie zu mischen, wobei sie

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