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Golem stiller Bruder

Golem stiller Bruder

Titel: Golem stiller Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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waren.
    I ch hatte Angst, und je näher ich dem Friedhof kam, umso größer wurde mein Unbehagen. Es war nicht die Furcht vor dem Unbekannten, ich kannte das Haus des Lebens schon. Jente hatte mich mitgenommen, als sie am Todestag ihres Vaters sein Grab besucht hatte. An jenem Tag hatten wir auch ihre Schwester Riwke getroffen, die zusammen mit Schmulik und seinen beiden Schwestern gekommen war. Schmulik hatte den Kaddisch für seinen toten Großvater gesprochen, und ich hatte in Gedanken mitgebetet und dabei mit Trauer im Herzen an meine tote Mutter gedacht, zu deren Grab mich mein Vater nie mitgenommen hatte.
    Bei dieser Gelegenheit hatte mir Jente auch das Grab von Avigdor Kara gezeigt, dem berühmten Talmudgelehrten, dessen Name von der Prager Judenschaft noch immer mit großer Ehrfurcht genannt wird. Damals war ich nur neugierig gewesen, der Friedhof hatte für mich nichts Unheimliches, nichts Beängstigendes. Doch damals war es helllichter Tag gewesen, ein sonniger Tag sogar, denn ich erinnerte mich an einen blühenden Jasminbusch und daran, dass Jentes und Schmuliks Haare wie Feuer geleuchtet hatten, während Riwkes Haare die Farbe von Kastanien hatten. Die Haare von Schmuliks Schwestern, zwei Mädchen, die ungefähr so alt waren wie Fejgele, doch ohne deren Liebreiz, waren einfach dunkelbraun.
    Damals hatte ich mich nicht gefürchtet, aber ein Friedhof bei Nacht war etwas ganz anderes, er war gefährlich, ein Ort, an dem sich die Geister der Toten aufhielten, vielleicht auch Dämonen und, wer weiß, sogar der Todesengel. Das hatte Tante Schejndl einmal erzählt: Manche Leute glaubten, dass der Todesengel nachts zum Friedhof fliegt und sich mit den Refa’im berät, wen er sich als Nächsten holen solle und vor allem auf welche Art, denn Tod ist nicht gleich Tod, hatte sie gesagt.
    Ich verstand nicht, warum Schmulik mich ausgerechnet an einem solchen Ort treffen wollte. Von unten, von der Moldau herauf, kam ein Schrei, der sofort wieder verstummte, doch sein Echo hallte nach, ich meinte ihn noch zu hören, als ich um die Friedhofsmauer herum zur Rückseite ging, wo sich der Eingang befand. Dabei musste ich gegen den Wunsch ankämpfen, mich einfach umzudrehen und wegzulaufen. Was mich davon abhielt, war nicht nur Neugier, es war vor allem die Furcht, Schmulik zu enttäuschen und seine Freundschaft zu verlieren. Ich wollte nicht, dass er mich für einen Feigling hielt, deshalb ging ich weiter.
    D as große Tor war geschlossen, doch das Türchen des Seiteneingangs war nur angelehnt. Der Friedhof lag vor Jankel, schweigend und reglos wie der geheimnisvolle Strom Sambation im Reich der verschollenen zehn Stämme, dessen Wasser an den Werktagen strömt und am Schabbat ruht. Zögernd trat Jankel ein. Hier, unter offenem Himmel, war die Nacht nicht so finster wie in den Gassen, trotzdem waren die Grabsteine nur als verschwommene Flecken zu erkennen. Aus einem Baum neben dem Eingang flatterten Fledermäuse auf und erfüllten die Luft wie die Geister toter Vögel. Der Junge wartete einen Moment, bevor er sich, achtsam mit den Füßen tastend, vorwärtsbewegte.
    Eine leise Stimme rief: »Jankel, hier bin ich!«
    Er blieb stehen und schaute sich suchend um.
    Schmulik saß auf der Erde, mit dem Rücken an einen Grabstein gelehnt, und trotz der Dunkelheit konnte Jankel erkennen, dass er ihn zu sich winkte. Zögernd setzte er sich neben dem Freund ins Gras, das sich kühl und ein wenig feucht anfühlte.
    »Hat dich jemand gesehen?«, fragte Schmulik.
    »Ich habe niemanden getroffen«, antwortete Jankel, bemüht, leise zu sprechen, aber nicht zu leise, denn Schmulik sollte nicht merken, wie unbehaglich er sich fühlte. »Nur Koppel, den Fiedler, aber er hat mich nicht bemerkt.«
    Schmulik nickte. »Ich bin ihm auch begegnet, es geht ihm wirklich wieder gut, dem Himmel sei Dank. Ich glaube, er hat ein bisschen zu viel Wein getrunken, er wollte mir wieder die neue Fiedel zeigen, die er von Reb Meisl bekommen hat, und dabei hat er sie mir schon mindestens fünf Mal gezeigt.« Schmulik kicherte. »Ich konnte ihn nur mit Mühe davon abhalten, mir mitten in der Nacht etwas vorzuspielen, er wollte mir unbedingt auf der Stelle beweisen, dass die neue Fiedel viel schöner klingt als seine alte, die ihm die Judenhasser zerbrochen haben.«
    »Darf man am Schabbat überhaupt auf der Fiedel spielen?«, fragte Jankel.
    »Keine Ahnung«, antwortete Schmulik, »so etwas musst du deinen Onkel fragen, der ist für solche Fragen

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