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Golem stiller Bruder

Golem stiller Bruder

Titel: Golem stiller Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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denn einen Freund?«
    Seine Stimme war so weich und fürsorglich, dass sie Jankel ins Herz schnitt und seine Zunge löste. Vielleicht war es aber auch die Mahnung der Wahrsagerin, die ihn zum Sprechen ermunterte. Stockend und in kurzen Worten berichtete er, was er in der vergangenen Nacht in der Bodenkammer gesehen hatte und was an diesem Morgen geschehen war.
    Schmulik hörte zu, seine Brauen zogen sich zusammen, und einige Male hob er die Hand, als wolle er ihn unterbrechen, ließ sie aber gleich wieder sinken. Als Jankel mit seinem Bericht fertig war, sagte er: »Wenn du es schon gesehen hast, dann sollst du auch die ganze Wahrheit erfahren.« Er zögerte einen Moment. »Josef ist kein Mensch, Josef ist nur ein Golem.«
    »Was ist ein Golem?«, fragte Jankel.
    Schmulik schüttelte verwundert den Kopf. »Weißt du das nicht? Habt ihr bei euch in Mo ř ina noch nie von einem Golem gehört?«
    »Nein«, sagte Jankel, »bei uns gab es so etwas nicht. Erkläre es mir.«
    Schmulik packte wieder die Handgriffe des Karrens. »Nicht jetzt«, sagte er. »Wir treffen uns heute Abend, wenn die anderen schlafen gegangen sind, dann werde ich dir alles erzählen. Komm auf den Friedhof, dort sind wir ungestört und niemand kann uns hören, die Toten reden nicht.« Er lachte kurz auf. »Ich habe jedenfalls noch nie gehört, dass ein Toter ein Geheimnis verraten hätte.«
    Jankel erschrak. »Auf dem Friedhof? Fürchtest du dich nicht vor den Refa’im?«
    Wieder lachte Schmulik, und Jankel meinte, Spott in diesem Lachen zu erkennen. »Nein«, sagte er, »ich fürchte mich nicht. Außerdem, so sagt man, steigen die Geister der Toten erst um Mitternacht aus ihren Gräbern. Hab keine Angst, es wird uns nichts passieren. Wir treffen uns am Grabstein von Avigdor Kara, dort werde ich dir in Ruhe erklären, was es mit Josef auf sich hat.«
    In diesem Moment kam Mendels kugelrunde Frau aus dem Haus. Sie hatte ihre Schürze abgebunden und trug einen Einkaufskorb in der Hand. Sie winkte, als sie die beiden Jungen sah.
    »Also heute Abend«, flüsterte Schmulik und nahm die Handgriffe hoch, und während er den Karren weiterschob, lachte er der Bäckersfrau entgegen.

8. Kapitel
Die Erschaffung Josefs
    I n der Judenstadt herrschte die Ruhe des siebenten Tages, denn es steht geschrieben: Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Werke tun. Aber am siebenten Tag ist der Schabbat des Herrn, deines Gottes. Denn in sechs Tagen hat der Herr Himmel und Erde gemacht und das Meer und alles, was darinnen ist, und ruhte am siebenten Tag. Und Gott segnete den siebenten Tag und heiligte ihn, weil er an ihm ruhte von allen seinen Werken .
    Der feierliche Gottesdienst zum Empfang des Schabbat war vorbei, Jankel hatte Rochele besucht und ihr einen guten Schabbat gewünscht, dann war er nach Hause gegangen, wo Perl, die Frau des Rabbis, bereits die Lichter angezündet hatte. Sie hatten alle zusammen das festliche Mahl zu sich genommen und noch einmal gebetet, dann waren sie schlafen gegangen.
    Der Junge schlich sich aus dem Haus. Der Mond, nur eine Sichel am sternenklaren Himmel, warf einen blassen Schein auf die Dächer, doch seine Kraft reichte nicht mehr aus, um die engen Gassen zu erhellen, dort herrschte fast völlige Finsternis. Trotzdem achtete Jankel darauf, sich dicht an die Häusermauern zu halten, um nicht gesehen zu werden, falls vielleicht doch jemand am Fenster stand und hinausschaute.
    Die Gassen waren menschenleer. Nur als er in die Breite Gasse einbog, sah er von weitem einen Mann, der schwankend auf ihn zukam, eigentlich hörte er ihn mehr, als dass er die schattenhafte Gestalt wahrnahm. Er stellte sich in einen Hauseingang und wartete, und erst als der Mann schon ganz nahe war, erkannte Jankel in ihm Koppel, den Fiedler, der vielleicht bei einer christlichen Hochzeit aufgespielt hatte, denn er torkelte ein bisschen, als habe er zu viel Wein getrunken. Jankel drückte sich fester an die Wand und rührte sich nicht, bis Koppel, ohne ihn bemerkt zu haben, leise vor sich hin brabbelnd vorbeigegangen und um die nächste Ecke verschwunden war.
    Kurz vor dem Friedhof kam Jankel am Lehrhaus vorbei und sah in einem der oberen Räume Licht, ebenfalls in der Klause, offenbar studierten auch die Talmudschüler noch die heiligen Bücher. Und dann lag endlich die Friedhofsmauer vor ihm, ein heller Streifen unter dem dunklen Himmel, über dem, unsichtbar dem menschlichen Auge, die Engel Gottes standen, die als Hüter über die Menschen bestimmt

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