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Golem stiller Bruder

Golem stiller Bruder

Titel: Golem stiller Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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wie ich hinter meinem Busch erschrak, als ich das sah. Ich wäre am liebsten weggelaufen, aber meine Angst, sie könnten mich entdecken, war noch größer als mein Erschrecken. Als sie die Gestalt in groben Umrissen fertiggestellt hatten, fingen sie mit den Einzelheiten an. Sie formten Mund, Nase, Augen und Ohren, dann Beine und Füße mit Zehen, Arme und Hände mit Fingern. Schließlich lag eine menschlich aussehende Gestalt aus Lehm am Ufer, von weitem hätte man sie für einen schlafenden Mann halten können.
    ›Du vertrittst das Element Feuer‹, sagte Rabbi Löw zu Jizchak, seinem Schwiegersohn. ›Du gehst jetzt siebenmal um ihn herum und sagst dazu den Spruch, den ich dich gelehrt habe.‹ Jizchak tat, wie der Rabbi befohlen hatte, er schritt um die Gestalt am Boden herum und murmelte dabei einen Spruch vor sich hin, den ich aber nicht verstehen konnte.«
    Wieder schwieg Schmulik, dann sagte er: »Ich bin froh, dass ich ihn nicht verstanden habe, glaub mir, es gibt geheimes Wissen, mit dem ich nichts zu tun haben möchte, denn es heißt, die Feuerflamme der geheimen Lehre verbrennt alles, was nicht Feuer ist wie sie. Aber höre, was dann geschah: Kaum hatte Jizchak die Gestalt einmal umrundet, da begann der Lehmmann zu trocknen, beim dritten Mal strahlte er eine solche Wärme aus, dass ich sie bis zu meinem Versteck spüren konnte, und als Jizchak die siebte Runde beendet hatte, da leuchtete und glühte der Lehmmann so rot wie ein Hufeisen im Schmiedefeuer.«
    Jankel fing an zu zittern. »Ich weiß gar nicht, ob ich das alles hören will«, flüsterte er.
    Schmulik sagte: »Es ist zu spät, du wolltest es wissen, du musst es dir jetzt anhören. Dann befahl der Rabbi Schimon, der das Element Wasser vertrat, ebenfalls siebenmal um den Lehmmann herumzugehen und dabei seinen Spruch aufzusagen. Schimon gehorchte. Schon bei seiner ersten Runde erlosch das Glühen, und als er ihn das dritte Mal umschritten hatte, fing der Lehmmann an zu dampfen und sein Leib wurde feucht. Beim vierten Mal wuchsen Nägel an seinen Fingern und an seinen Zehen und auf dem Kopf sprossen Haare und über seinen Augen dichte Brauen. Ich kauerte hinter dem Busch und wagte kaum zu atmen, mir gingen die Augen über, und mir war so heiß, dass mir der Schweiß über Gesicht und Rücken lief, und mein Herz klopfte so heftig, dass ich fürchtete, sie könnten es hören.
    Danach umschritt auch der Hohe Rabbi die Gestalt siebenmal. Nach der siebten Runde bückte er sich, öffnete den Mund des Lehmmannes und schob ein Pergamentblättchen hinein.«
    » Elohim emet «, flüsterte Jankel, dem nun auch ganz heiß wurde. »Das muss der Zettel gewesen sein, den ich neben Josef fand.«
    »Ja«, bestätigte Schmulik, »das muss er gewesen sein. Zum Schluss verneigten sich der Hohe Rabbi, Jizchak und Schimon in alle vier Windrichtungen und sagten gemeinsam einen Satz, den ich diesmal verstehen konnte, weil sie laut sprachen. Sie sagten: › Da machte Gott der Herr den Menschen aus Erde vom Acker und blies ihm den Odem des Lebens in die Nase. Und so ward der Mensch ein lebendiges Wesen .‹
    Nach diesen Worten erwachte Leben in dem Mann aus Lehm. Er atmete tief, schlug die Augen auf und blickte sich um. Ja, es war Josef, ein Golem, ein Wesen, aus Lehm gemacht, das kein Mensch ist, aber mit dem Aussehen eines Menschen. Kannst du dir vorstellen, wie ich mich dort, hinter dem Busch, gefühlt habe?«
    Jankel konnte nur nicken, er brachte keinen Ton heraus, sein Atem ging laut und heftig.
    Schmulik berichtete weiter: »›Steh auf‹, gebot ihm der Rabbi. Und der Golem richtete sich auf wie einer, der aus dem Schlaf erwacht, erst schwankte er noch etwas unsicher hin und her, aber schließlich stand er fest auf seinen Beinen. Und ich, hinter meinem Busch, war der Ohnmacht nahe. Danach packte der Rabbi das Bündel aus, das er mitgebracht hatte. Es enthielt Kleidungsstücke, wie Synagogendiener sie tragen. Diese Kleidungsstücke zogen sie dem Golem an, der nun wirklich wie ein Mensch aussah, und er bewegte sich auch wie ein Mensch, höchstens ein bisschen langsamer. Aber er hatte noch kein Wort gesprochen. Mir wurde erst später klar, dass er stumm ist. Verstehst du, das Geheimnis, wie man ihm die Gabe der Sprache erteilt, hat der Himmel für sich behalten, denn für den Zweck, für den der Golem bestimmt ist, braucht er keine Sprache, alles, was er können muss, ist, Befehle zu verstehen und ihnen zu gehorchen.
    ›Wir haben dich aus Lehm geformt und dir Leben

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