Golem stiller Bruder
jetzt nicht hinein«, sagte sie mit einer harten Stimme, die keinen Widerspruch duldete. »Du kommst mit zu mir.«
Später saß ich an ihrem Tisch, sie stellte einen Teller mit kaltem, süßem Karpfen vor mich hin und schnitt mir ein Stück Brot ab. Doch noch bevor ich den ersten Bissen in den Mund gesteckt hatte, fing das Schreien an. Im ersten Moment verstand ich nicht, dass es meine Mutter war, die so schrie, und dann wollte ich aufspringen und zu ihr laufen. Doch die Nachbarin drückte mich auf den Stuhl zurück. Und als das Schreien nicht aufhörte, hielt sie mir die Ohren zu. Ich saß da, starrte den Fisch an und spürte ihre Hände, die sich so fest auf meine Ohren drückten, als wolle sie mir den Kopf zerquetschen. Die Augen quollen mir fast aus den Höhlen und das Blut rauschte in meinen Ohren, so fest drückte sie, und als sie mich endlich losließ, hatte das Schreien aufgehört.
Danach erinnere ich mich nur, dass am Abend Tante Schejndl kam, mit einem Stoffbündel in der Hand, aus dem das Gesicht eines Neugeborenen schaute. Sie setzte sich neben mich an den Tisch, auf dem noch immer der Teller mit dem Fisch stand, und wiegte das Kind sanft hin und her, während aus ihren Augen Tränen flossen und auf die Tücher tropften. Da wusste ich, was passiert war.
Ab diesem Tag blieb Tante Schejndl bei uns, bei mir und bei meiner kleinen Schwester, über deren Geburt sich niemand gefreut hatte. Auch bei mir hat es Wochen gedauert, bis ich anfing, sie zu lieben, vielleicht sogar Monate. Damals, an jenem furchtbaren Tag ihrer Geburt, habe ich nicht geweint, ich war so betäubt, dass sich die Tränen in mir stauten und keinen Weg nach draußen fanden, und jetzt, in der Judenstadt, auf meinem Weg von Frumes Haus zur Moldau, hatte ich Mühe, die Tränen zurückzuhalten.
A m Nachmittag saßen die beiden Jungen am Ufer der Moldau, auf einem großen Stein, der warm war von der Sonne. Möwen flogen über das glitzernde Wasser, vom anderen Ufer drang Musik herüber, in der Luft lag der Geruch von frischem Heu und Kräutern.
»Ich muss immer wieder daran denken, wie es bei Doktor Balthasar aussieht und in was für einem prächtigen Haus er wohnt«, sagte Schmulik. »Er ist reich, er hat keine Sorgen, er braucht vor niemandem Angst zu haben. Findest du es richtig, dass der eine sich abrackert und doch nur trockenes Brot zwischen die Zähne bekommt und der andere erntet, ohne dass er gesät hat?«
»Man muss dem Ewigen für das danken, was er einem zuteil werden lässt«, sagte Jankel unsicher. »Es steht geschrieben: Reiche und Arme begegnen einander; der Herr hat sie alle gemacht .«
»Ach ja?«, antwortete Schmulik. »So steht es geschrieben? Aber es steht auch geschrieben: Der Reiche herrscht über die Armen; und wer borgt, ist des Gläubigers Knecht . Und was macht dich eigentlich so sicher, dass es der Ewige war, der das gesagt hat, und dass die Schreiber, die es aufgeschrieben haben, die Sprache des Ewigen richtig verstanden haben?«
Jankel erschrak.
Schmulik lachte plötzlich laut auf. »Hab keine Angst, ich bin kein Ketzer, ich habe es nicht so gemeint.« Er riss ein Blatt von einem Strauch und ließ es ins Wasser fallen. Beide schauten sie zu, wie es sich erst ein paarmal drehte, als zögere es, bevor es von der Strömung fortgetragen wurde.
»Ich möchte auch weg von hier, so wie dieses Blatt«, sagte Schmulik plötzlich. »Ich möchte weg aus Prag, und irgendwann, wenn meine Schwestern verheiratet sind, werde ich das auch tun. Die Stadt, so groß sie ist, ist mir zu klein. Ich will die Welt sehen, andere Städte kennenlernen, andere Länder, andere Menschen.«
Jankel hörte die Sehnsucht in der Stimme des Freundes. Einerseits konnte er ihn verstehen, doch andererseits ängstigte ihn die Vorstellung. »Warum willst du dich solchen Gefahren aussetzen?«, protestierte er. »Juden gehören zu Juden, so wie geschrieben steht: So ist’s ja besser zu zweien als allein. Fällt einer von ihnen, so hilft ihm sein Gesell auf. Wehe dem, der allein ist, wenn er fällt .«
»Mag sein«, sagte Schmulik und zuckte mit den Schultern, »dann muss ich eben aufpassen, dass ich nicht falle. Aber ich werde Geschichtenerzähler, so wie der Bucklige, der früher immer gekommen ist und jetzt schon lange nicht mehr da war. Das ist die richtige Beschäftigung für mich, das weiß ich genau, wie ein fahrender Händler werde ich Wörter und Sätze verkaufen, verstehst du? Abends, vor dem Einschlafen, übe ich bereits und erzähle
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