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Golem stiller Bruder

Golem stiller Bruder

Titel: Golem stiller Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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aus Furcht vor dem Pöbel blieben die Juden in ihren Häusern und verließen sie nur zu den Gottesdiensten, und keiner wagte es, die Judenstadt zu verlassen. In den Synagogen und auf dem Friedhof wurden Klagegebete gesprochen und vor der Altneuschul saß Ziperl und murmelte: ›Die Väter haben saure Trauben gegessen und den Kindern werden die Zähne stumpf.‹
    Am letzten Tag der vom König gestellten Frist wartete draußen schon eine große Menschenmenge, bewaffnet mit Stöcken und Äxten und begierig darauf, in die Judenstadt einzudringen und zu plündern. Die Juden hatten sich in der Altneuschul versammelt, alle außer einem, Reb Schime, der Flickschneider, fehlte. Das stille Jüdel hatte sich am Vorabend aufs Liebevollste von seiner Familie verabschiedet, war weggegangen und nicht zurückgekommen. Die Gemeinde hätte seine Abwesenheit sicher nicht bemerkt, hätte nicht seine Großmutter Ziperl ständig geweint und geklagt: ›Mein Schimele, weh, was ist mit dir geschehen?‹
    Da erschien Rabbi Jonathan und gebot Ruhe. ›Die Gemeinde ist gerettet‹, verkündete er, ›aber wir müssen einen hohen Preis für unsere Rettung bezahlen. Ein großer Sohn Israels hat still und ohne viele Worte das Opfer auf sich genommen. Gestern Abend ist Reb Schime, den alle das stille Jüdel nennen, auf die königliche Burg gegangen und hat den versuchten Mord am König gestanden. Wir alle kennen ihn, wir wissen, dass er unschuldig ist, sein Andenken soll uns heilig bleiben.‹ Er räusperte sich und wischte sich eine Träne ab, bevor er mit lauter, aber zitternder Stimme fortfuhr: ›Sein Opfer wurde angenommen, der König hat Reb Schime zum Tode verurteilt.‹
    Die Freude der Juden über ihre Errettung wurde getrübt durch die Trauer um Reb Schime, den Flickschneider. Und als Ziperl hörte, dass ihr Enkel mit seinem Opfer die Prager Judenschaft errettet hatte, sank sie mit dem Aufschrei ›Schimele, ach, mein Schimele!‹ tot zu Boden.
    Der Pöbel, der sich bereits versammelt hatte, um in die Judenstadt einzudringen und zu plündern, wurde von bewaffneten königlichen Reitern zurückgedrängt. Deren Anführer verlas das Urteil des Königs: Die Judenstadt sei frei und stehe unter königlichem Schutz, der Übeltäter jedoch solle noch an diesem Tag vom Haus seines Verbrechens in den Tod gestürzt werden.
    Gegen Abend kamen Landsknechte zu Pferd, die in ihrer Mitte Reb Schime mit sich führten, in Ketten gebunden und begleitet von Rabbi Jonathan. Die ganze Judenschaft hatte sich versammelt, und alle weinten und klagten, als der stille, bescheidene Flickschneider vorbeigeführt wurde. Noch einmal, ein letztes Mal, umarmte er seine Frau und seine Kinder, dann wurde er auf das Dach jenes Hauses in der Belelesgasse gebracht, von wo aus der Ziegelstein geworfen worden war. Unten stellten sich die Landsknechte mit emporgerichteten Lanzen auf. Oben auf dem Dach wandte sich Reb Schime noch einmal gen Osten, dann stürzte er sich mit dem ›Höre Israel‹ auf den Lippen hinunter in die Spieße.
    Die ganze Gemeinde trauerte um den Märtyrer und betete für ihn und dreißig Tage lang brannte zu seinem Andenken das Seelenlicht in der Altneuschul.
    Zwei Jahre nach dem Tod des stillen Jüdels wurde der Staatskanzler König Wenzels wegen Hochverrats zum Tode auf dem Schafott verurteilt. Kurz vor der Hinrichtung ließ er Rabbi Jonathan kommen und gestand ihm, dass er damals einen Diener bestochen habe, den Stein zu werfen. Und er bat den Rabbi inständig, für die Hinterbliebenen des stillen Jüdel zu sorgen.«
    Schmulik schwieg und starrte ins Wasser.
    Jankel räusperte sich. »Was für eine traurige Geschichte«, sagte er.
    »Eine jüdische Geschichte«, sagte Schmulik, ohne Jankel anzuschauen.
    »Du hast sie wunderbar erzählt«, sagte Jankel, erhob sich und dehnte seine Glieder. »Aber sag, warum ist sie deine Lieblingsgeschichte?«
    Schmulik rutschte vom Stein, riss noch ein Blatt ab, warf es in den Fluss und schaute ihm nach. »Warum das meine Lieblingsgeschichte ist, willst du wissen?«, sagte er endlich. »Nun, man sagt, das stille Jüdel habe rote Haare gehabt. Rote Haare, die Jente und ich geerbt haben.«
    Das Wasser hatte aufgehört zu glitzern, eine Wolke hatte sich vor die Sonne geschoben.
    I ch war traurig, ich war sehr traurig. Nicht nur wegen der Geschichte vom stillen Jüdel. Ich würde eines Tages Abschied von Schmulik nehmen müssen. Er wird weggehen, dachte ich, und ich werde allein zurückbleiben und warten. Meine Tage werden

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