Golem stiller Bruder
mir alle möglichen Geschichten, auch wenn ich durch die Gassen gehe und bei der Arbeit tue ich nichts anderes. Ich sammle alle Geschichten, die ich höre, in meinem Herzen, bis mein Vorrat groß genug ist, um mich am Leben zu erhalten. Auch unser Golem wird eines Tages nur noch eine Geschichte sein, dann, wenn es ihn nicht mehr gibt, wenn wir Juden ihn nicht mehr brauchen, weil wir nicht mehr in Not sind.« Er lachte.
»Du erzählst dir selbst Geschichten?«, fragte Jankel erstaunt.
Schmulik nickte. Sein Gesicht unter den roten Haaren rötete sich. »Möchtest du eine hören?«, fragte er verlegen. »Meine Lieblingsgeschichte?«
»Ja«, sagte Jankel. »Gern.«
Schmulik schlug die Beine unter den Körper und legte die Hände auf die Knie. »Gut, dann höre. In Prag lebte vor sehr, sehr langer Zeit ein Jude, ein armer Jude, der in einem der kleinsten und schlechtesten Häuser wohnte. Er hieß Schime und brachte sich und seine Frau und seine drei Kinder als Flickschneider mehr schlecht als recht durch, und oft musste die alte Ziperl, seine Großmutter, ihrem geliebten Schimele unter die Arme greifen.
Reb Schime, Ziperls Enkel, genoss in der Gemeinde wenig Ansehen, zum einen wegen seines ärmlichen Handwerks, zum anderen war er auch nicht besonders gebildet, er las die heilige Sprache mühsam und stockend und konnte nur mit großen Augen zuhören, wenn die anderen Juden gelehrte Dispute führten. Er war gottesfürchtig und erledigte seine Arbeit ordentlich, sodass alle zufrieden waren, tat sich aber in nichts hervor.
Seine stille, unauffällige Art brachte ihm den Spitznamen ›das stille Jüdel‹ ein und still ertrug er auch jeden Spott. Einen bescheideneren Menschen als ihn gab es nicht, aber es gab auch keinen, der seine Frau und seine Kinder inniger geliebt hätte. Und wenn jemand über ihn lachte, sagte seine Großmutter Ziperl nur: ›Lasst mein Schimele in Ruhe! Stille Wasser sind tief.‹ Wie recht sie mit ihrer standhaften Liebe hatte, erfuhren die Prager Juden erst viel später, zu spät für Schime.
Es war an einem warmen Sommertag, in der Prager Judenstadt herrschte reges Leben, denn es war der Vortag von Schawu’ot*, dem Wochenfest, und alle wollten ihre letzten Einkäufe erledigen. Da kam auf einmal Reb Leser, der Ausrufer der Gemeinde. Mitten in der Breiten Gasse stieß er seinen schweren Stock dreimal auf den Boden, und alle wurden mäuschenstill, weil sie wussten, dass er etwas zu verkünden hatte. Er verlas eine Nachricht von der königlichen Burg auf dem Hradschin, nämlich dass König Wenzel II. von Böhmen noch am selben Nachmittag mit seiner Gattin die Judenstadt besuchen wolle.
Bei dieser Nachricht brach Jubel aus, der Jubel setzte sich von Gasse zu Gasse fort, und alle machten sich an die Arbeit, denn sie wollten dem Königspaar einen festlichen Empfang bereiten.
Auf dem Rathausplatz versammelten sich alle Repräsentanten der Judenschaft, der Gemeindevorsteher trug seine Galatracht mit Barett, und Rabbi Jonathan, der Oberrabbiner der böhmischen Juden, hatte seinen seidenen Mantel angelegt und seine Pelzmütze aufgesetzt. In den Straßen der Judenstadt drängten sich die Menschen, die alle dem König zujubeln wollten, und Eltern hoben ihre Kinder auf die Schultern, damit auch sie das königliche Paar sehen könnten. Endlich kam die Kutsche, die von sechs weißen Pferden gezogen wurde, und der König und seine Gemahlin stiegen aus. Sie nahmen gnädig die Huldigungen der Ältesten entgegen, sie besichtigten die Altneuschul, das Rathaus und das neue Lehrhaus, dann wollten sie unter dem großen Jubel der Menschen den Rückweg zu ihrer Kutsche antreten.
Plötzlich, in der Belelesgasse, wurde aus einem Haus ein Ziegelstein auf den König geworfen und fiel direkt vor ihm zu Boden. Das Jubelgeschrei verwandelte sich in einen Schrei des Entsetzens. König Wenzel blieb zwar unverletzt, aber er stieg zornig in seine Kutsche und fuhr davon. Die Juden waren von Angst und Entsetzen gepackt, denn allen war auf der Stelle klar, dass dieser Vorfall die schlimmsten Folgen für sie verhieß.
So war es auch. Der König ließ Rabbi Jonathan mitteilen, dass der Übeltäter innerhalb von acht Tagen der Obrigkeit auszuliefern sei, andernfalls würde am neunten Tag die Judenstadt geplündert und ihre Bewohner würden verjagt werden.
Die Gemeinde war verzweifelt, doch alle Versuche, den Schuldigen zu finden, blieben erfolglos. Rabbi Jonathan hatte nach dem Wochenfest drei Tage Fasten für alle angeordnet und
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