Golem stiller Bruder
uns morgen Nachmittag an der Moldau treffen, falls das Wetter schön bleibt?«
Jankel nickte.
Sie trennten sich. Jankel war nicht mehr weit vom Haus des Rabbis entfernt, da fiel ihm ein, dass dieser wahrscheinlich schon den Riegel vor die Haustür gelegt hatte. Er erschrak und überlegte, wie es ihm gelingen könnte, ins Haus zu kommen. Doch wie durch ein Wunder war die Tür nicht verriegelt.
Erst als er schon auf seinem Bett lag, hörte Jankel, wie der Rabbi die Treppe herunterkam und den Riegel vorlegte. Diesmal kehrte er sofort in sein Studierzimmer zurück. Josef war also schon oben in der Bodenkammer.
W ieder einmal konnte ich nicht einschlafen. Ich dachte an Josef, den Golem, der dort oben als toter Lehmklotz lag und morgen früh wieder die Treppe herunterkommen würde. Ich sah sein Gesicht vor mir, wie ich es in der Nacht gesehen hatte, grob, mit buschigen Augenbrauen, aber ohne Wimpern, und mit diesen ausgefransten Lippen, und ich sah den Hohen Rabbi Löw, wie er sich über Josef bückte und ihm das Pergament in den Mund schob. Josef schlug die Augen auf, seine Lippen bekamen Farbe und nahmen die Form menschlicher Lippen an. Mich schauderte, als ich das sah.
Ich dachte auch an den Hohen Rabbi Löw. Er hatte Josef nicht getötet, das wusste ich nun, aber dieses Wissen beruhigte mich nicht, denn er hatte ihn erschaffen – und das war unbegreiflicher und beängstigender als Töten. War er, mein Onkel, ein Werkzeug des Ewigen oder hatte der Satan Macht über ihn gewonnen? War er ein Weiser, vor dem man Ehrfurcht empfinden musste, oder war er ein Mensch, der die Grenze zum Bösen überschritten hatte? War es göttliche Gnade oder teuflische Anmaßung? Die Gedanken flatterten mir durch den Kopf wie Fledermäuse, und wenn ich versuchte, nicht zu denken, spürte ich, dass sie sich unter meiner Schädeldecke festgeklammert hatten und da hingen, jeder zeit bereit, aufzuwachen und ihr wahnsinniges Flattern wieder aufzunehmen.
Ich war so müde. Eine heftige Sehnsucht nach Mo ř ina überfiel mich. Und nach dem Leben, das ich dort mit meinem Vater, Tante Schejndl und Rochele geführt hatte. Ich sehnte mich nach unserem kleinen Haus, das, gemessen an den Häusern hier in der Stadt, wohl nicht mehr als eine Hütte war, mit nur einem Raum, in dem wir alle lebten, aßen und schliefen. Ich sehnte mich nach den vertrauten Geräuschen, den vertrauten Menschen, dem vertrauten Himmel und der vertrauten Erde.
Und ich sehnte mich nach der Zeit zurück, in der ich ein Kind war und vieles nicht wusste. Aber mir war klar, dass diese Zeit vorbei war, ich konnte sie nicht mehr zurückholen. Es war, wie geschrieben steht: Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde: Geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit; pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit; töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit; abbrechen hat seine Zeit, bauen hat seine Zeit; weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit; klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit; Steine wegwerfen hat seine Zeit, Steine sammeln hat seine Zeit; herzen hat seine Zeit, aufhören zu herzen hat seine Zeit; suchen hat seine Zeit, verlieren hat seine Zeit; behalten hat seine Zeit, wegwerfen hat seine Zeit; zerreißen hat seine Zeit, zunähen hat seine Zeit; lieben hat seine Zeit, hassen hat seine Zeit; Streit hat seine Zeit, Friede hat seine Zeit. Man mühe sich ab, wie man will, so hat man keinen Gewinn davon.
Mein Vater hatte das so oft gesagt, dass ich die Worte auswendig wusste. Wie froh wäre ich in jener Nacht gewesen, wenn er mir gesagt hätte, was ich tun sollte, welche Zeit gekommen war.
9. Kapitel
Das stille Jüdel
D er Mensch strebt nach Wissen und Erkenntnis, doch wenn sein Streben nur von weltlicher Neugier bestimmt wird, so wird es ihm an Kraft fehlen, das Wissen zu ertragen, und er wird es mit sich schleppen, wie ein Esel die Last seines Herrn schleppt, und wird es nicht mehr abwerfen können. Der Junge fürchtete, dass es ihm so ergehen könnte.
Es war Schabbat, über der Judenstadt lag der Frieden des heiligen Tages. Jankel spürte die Stimmung gleich beim Aufwachen. Er ging hinüber in die Küche, bevor er sich aufmachte, um den Gottesdienst zu besuchen. Zu seinem Erstaunen fand er nur Jente vor. Sie stellte ihm Brot hin.
»Der Rabbi und seine Frau sind zu Frume gegangen, sie hat heute Nacht einen Sohn geboren, er möge leben und gesund sein. Wie geschrieben steht: Gepriesen seist du,
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