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Golem stiller Bruder

Golem stiller Bruder

Titel: Golem stiller Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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schaute mich nicht an. Er drehte sich um und auch ich setzte meinen Weg fort.
    I n Gedanken versunken, bog der Junge um die Ecke und blieb überrascht stehen. Vor ihm, auf dem Dreibrunnenplatz, hatten sich viele Menschen versammelt, sehr viele Menschen. Schweigend standen sie da und starrten zu Reb Meisls Haus hinüber. Nichts war zu hören, nur das Krächzen einiger Krähen, die über dem Dach kreisten.
    Jankel nahm den Korb von seiner Schulter und stellte sich auf die Zehenspitzen. Nun entdeckte er hinter den Menschen, die so reglos dastanden wie eine Mauer, auch bewaffnete Landsknechte und etliche berittene Soldaten. Er ergriff seinen Korb und drängte sich durch die Menge, bis er die erste Reihe erreicht hatte, dort blieb er stehen, genau vor den Landsknechten, die ihre Speere senkrecht vor den Körper hielten und die Menge nicht aus den Augen ließen. »Was ist passiert?«, flüsterte er dem Mann zu, der neben ihm stand, doch dieser gab ihm keine Antwort.
    Auf einmal wurde die Tür aufgestoßen, ein Gerichtsdiener trat heraus. Die Menge wurde noch stiller, es war, als hielten alle den Atem an. Der Mann trug ein Kind auf den Armen, ein Mädchen, das nicht viel älter sein konnte als Rochele. Einen Moment lang blieb er auf der Schwelle stehen und hielt das Mädchen hoch, wie man eine Opfergabe hochhält. Tatsächlich sah es nicht so aus, als wolle er das Kind den Menschen zeigen, es sah eher aus, als biete er es dem Himmel dar, und auch sein Blick war nach oben gerichtet. Ein Seufzer stieg aus der Menge auf, ein klagender Ton, als wären alle Menschen ein Körper, als wären alle Münder ein Mund.
    Die Landsknechte bildeten ein Spalier, der Gerichtsdiener setzte sich in Bewegung, und bei jedem seiner Schritte pendelten der Kopf und die herunterhängenden Gliedmaßen des Mädchens, als wäre es nie ein Mensch gewesen, sondern eine Puppe aus Stofflappen, wie man sie kleinen Kindern zum Spielen gibt. Jankel wurden die Knie weich bei diesem Anblick, ein paar Frauen hinter ihm brachen in lautes Weinen aus.
    Der Gerichtsdiener schritt durch das Spalier der Landsknechte und hob, als er den ersten Reiter erreicht hatte, das Kind hoch, der Reiter nahm es aus seinen Armen und legte den schlaffen Körper vor sich über den Rücken des Pferdes, sodass auf der einen Seite die Beine herunterhingen, auf der anderen die Arme und der Kopf. Das Gesicht des Kindes mit den geschlossenen Augen war sehr weiß unter den Haaren, die so hell waren wie eine Strohgarbe in der Sonne. Es sah vollkommen ruhig und friedlich aus.
    Wieder trat jemand aus dem Haus, es war der Büttel, der einen an Armen und Beinen gefesselten Mann führte. Die Fußfesseln waren so eng gebunden, dass er nur mit kleinen Schritten vorwärtskam. Er ging gebückt, mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf, der sich im Takt seiner Schritte hin und her bewegte, als verstünde er nicht, was mit ihm geschah. Den beiden folgten etliche bewaffnete Soldaten mit wutverzerrten Gesichtern.
    »Wer ist das?«, fragte Jankel den Mann, der neben ihm stand, obwohl er die Antwort ahnte.
    Der Mann sagte leise: »Reb Meisl, kennst du Reb Meisl nicht?«
    Nein, Jankel hatte diesen reichen Mann noch nie gesehen, er hatte immer nur von ihm gehört. Das war er also, ein alter Mann, ein gebrochener Mann, dem nichts von seiner Macht anzusehen war, der im Gegenteil schwach und hilflos wirkte. Er trug einen langen, seidenen Mantel und auf seinen grauen Haaren war eine schwarze Kipa aus Samt festgesteckt. Als er an Jankel vorbeigeführt wurde, konnte der Junge sehen, dass er weinte, und aus einer Wunde an seinem Kopf sickerte Blut und färbte die grauen Haare rot. Einer der Soldaten stieß ihn grob in die Seite, offenbar um ihn zur Eile anzutreiben, und wieder ging ein Seufzer durch die Menge.
    Der Gefangene wurde durch die Gassen der Judenstadt geführt. Es war ein seltsamer Zug, der sich da Richtung Altschultor vorwärtsbewegte. Die Spitze bildeten die berittenen Soldaten, in ihrer Mitte das Pferd mit der kleinen Leiche, dahinter folgten die Gerichtsdiener und der Büttel, der den gefesselten alten Mann führte, und alle waren eingerahmt von den Landsknechten mit ihren erhobenen Spießen. In einem gewissen Abstand folgte die Menge dem Zug, schweigend und mit gesenkten Köpfen, nur ab und zu waren Seufzer und Weinen zu hören.
    Jankel blieb stehen und schaute ihnen nach, bis sie verschwunden waren. Dann schleppte er den Korb um das Haus herum in die Küche, in der ein fürchterliches

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