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Golem stiller Bruder

Golem stiller Bruder

Titel: Golem stiller Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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zu versinken. Doch am meisten erstaunte ihn der Duft, in der Kutsche roch es ganz wunderbar nach Blumen, ohne dass er irgend wo Blumen entdecken konnte. Er war noch nie im Leben in einer Kutsche gefahren, nur auf Bauernkarren, auf denen man beim Fahren so heftig durchgerüttelt und durchgeschüttelt wurde, dass man danach immer blaue Flecken hatte. Die Kutsche fuhr viel weicher und leiser, das Hufgetrappel und das Rollen der Räder drangen gedämpft und wie von fern an Jankels Ohr.
    Er schaute aus dem Fenster. Sie fuhren durch die Breite Gasse, und alle Leute, an denen sie vorbeikamen, unterbrachen beim Anblick der kaiserlichen Kutsche ihre Tätigkeiten und verneigten sich, die Händler legten ihre Waren zur Seite, Frauen stellten ihre Körbe ab und zogen ihre Kinder näher zu sich heran oder hoben sie hoch, damit sie die Kutsche sehen konnten, Talmudschüler wichen scheu zur Seite, aber auch sie senkten die Köpfe zu einer angedeuteten Verneigung.
    An der Ecke, vor Bassevis Haus, stand Schmulik und winkte, als er Jankels Gesicht am Fenster entdeckte. Mit der rechten Hand winkte er, mit der linken streckte er den Daumen in die Luft. Jankel hob die Hand und winkte ein wenig verlegen zurück, es war ihm unangenehm, in dieser feinen Kutsche zu sitzen, während sein Freund noch eine Weile neben herlief.
    I ch schaute zu ihm hinaus und mein Herz wurde warm. Ich hatte einen Freund, rötlich mit schönen Augen und von guter Gestalt. Und plötzlich fiel mir die Geschichte von Davids und Jonathans Freundschaft ein, und ich meinte die Stimme unseres Melamed aus Mo ř ina zu hören, wie er erzählte: Als David aufgehört hatte, mit Saul zu reden, verband sich das Herz Jonathans mit dem Herzen Davids und Jonathan gewann ihn lieb wie sein eigenes Herz. Jetzt erst, hier in der Kutsche, verstand ich, was damit gemeint war. Ich winkte Schmulik zu, solange er noch zu sehen war.
    D ann hatten sie die Judenstadt verlassen, doch auch hier, in der Stadt der Christen, erregte die kaiserliche Kutsche Aufsehen. Die Pferde- und Eselskarren, die ihnen entgegenkamen, wichen bereitwillig zur Seite, ebenso wie alle anderen Gefährte, ohne dass der Kutscher »Aus dem Weg!« und »Platz da!« rufen musste. Und auch hier verneigten sich die Menschen beim Anblick der kaiserlichen Kutsche, die Männer zogen ihre Hüte und die Frauen knicksten, und Mütter hoben ihre Kinder hoch, damit sie die Kutsche sehen konnten, als säße in ihr der Kaiser selbst, nicht irgendein jüdischer Junge aus Mo ř ina, der bei den vielen Zeichen der Ehrerbietung errötete und den Kopf abwandte.
    Der Rabbi saß schweigend neben ihm, er hatte die Hände auf die Knie gelegt und starrte vor sich hin. Auch Josef, auf der Bank gegenüber, schaute weder nach links noch nach rechts. Sein Blick war geradeaus gerichtet, er schien die purpurne Wand zu durchdringen und auf irgendeinem Punkt in der Ferne zu ruhen.
    Die Wächter am Brückenturm salutierten, der Kutscher knallte ein paarmal mit der Peitsche, dann fuhren sie über die steinerne Brücke. Jankel schob den Kopf aus dem Fenster und staunte. Wie anders die Welt doch aussah, wenn man sie von einer Kutsche aus betrachtete. Der Fluss schien breiter zu sein, das Firmament darüber höher und weiter. Möwen flogen in schwungvollen Bögen unter dem Himmel, dessen Blau sich im Wasser spiegelte, und die Häuser der Altstadt, am anderen Ufer der Moldau, wurden immer kleiner, je weiter sie sich von ihnen entfernten.
    Auch auf der Prager Kleinseite blieben die Leute stehen, um die kaiserliche Kutsche zu bewundern, auch hier verneigten sie sich, knicksten und hoben ihre Kinder hoch. Jankel bestaunte die kunstvoll behauenen Fenstersimse, deren Ornamente, zum Beispiel steinerne Weintrauben, die er zum ersten Mal aus der Nähe sah, in manche Fenster konnte er sogar hineinschauen. Ein sehr junges, sehr hübsches Dienstmädchen mit einem Spitzenhäubchen auf dem Kopf lehnte sich weit über eine Fensterbank und warf ihm eine Kusshand zu, er spürte, wie ihm das Blut in den Kopf stieg, und schaute schnell zur Seite.
    Dann ging es über eine gewundene Straße bergauf zur kaiserlichen Burg, deren Silhouette mit den Kirchtürmen ihm so vertraut war wie die engen Gassen der Judenstadt, von wo aus man sie hoch über der Stadt thronen sah, aber eben nur aus der Ferne. Den Kaiser selbst hatte er allerdings noch nie gesehen, noch nicht einmal von weitem. Die Stadt unter ihnen wurde immer kleiner, die Menschen waren nicht mehr als Menschen zu erkennen,

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