Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Golem stiller Bruder

Golem stiller Bruder

Titel: Golem stiller Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
Vom Netzwerk:
sie wurden zu schwarzen Punkten.
    »Ich glaube, man bekommt ein anderes Herz, wenn man immer von oben hinunterschaut und die anderen Menschen nur ganz klein sieht«, sagte Jankel.
    Josef rührte sich nicht, aber sein Onkel hob den Kopf und sagte: »Merke dir, Jankel, es ist nicht wichtig, was ein Mensch denkt, und sei er auch der Mächtigste im Land. Denn es steht geschrieben: Der Herr schaut vom Himmel und sieht alle Menschenkinder. Von seinem festen Thron aus sieht er auf alle, die auf Erden wohnen. Er lenkt ihnen das Herz und er gibt acht auf alle ihre Werke. Einem König hilft nicht seine große Macht, ein Held kann sich nicht retten durch seine Kraft. Unsere Seele harrt auf den Herrn, er ist uns Hilfe und Schild. Denn unser Herz freut sich seiner und wir trauen auf seinen heiligen Namen. «
    Sie fuhren durch mehrere Tore und Höfe, bis die Kutsche endlich anhielt. Jankel schwankte, als er ausstieg, ihm war schwindlig und alles verschwamm vor seinen Augen, er fürchtete zu torkeln und schaute sich hilfesuchend nach seinem Onkel um. Doch sofort sprangen zwei Diener herbei und stützten ihn, trugen ihn fast eine Treppe hinauf und stellten ihn vor einer prachtvollen, mit reichen Schnitzereien versehenen Tür ab. Erst als sie alle drei bereitstanden, der Hohe Rabbi Löw rechts neben Jankel und Josef hinter ihnen, wurde die Tür geöffnet und sie traten ein.
    Der Saal, groß und lichtdurchflutet, war von einer solchen Pracht, dass Jankel erst einmal geblendet stehen blieb. Vor seinen Augen begann es zu flimmern, er hatte das Gefühl, vor einem goldenen Wasserfall zu stehen, vor einer Fontäne, die goldene Tröpfchen versprühte, und das ganze Geglitzer wurde von geschwungenen Gewölberippen gebändigt und in Form gehalten. Er rieb sich die Augen und dann schälte sich aus dem Geflimmer langsam das Bild eines Mannes he raus. Es war der Kaiser, er musste es sein. Er saß erhöht auf einem goldenen Sessel, auch sein Bart und seine Haupthaare schimmerten wie Gold. Sein langer, elfenbeinfarbener Umhang war mit Gold bestickt und mit weißem Pelz besetzt und so kunstvoll um seine Beine und Füße drapiert, als habe er diese Position eingenommen, um einem Maler Modell zu sitzen. Auch die edlen Herren und Damen, die in seiner Nähe standen oder auf Stühlen und Sesseln saßen, waren überaus prachtvoll gekleidet.
    Aus dem Augenwinkel sah Jankel, wie sich sein Onkel neben ihm verneigte, und tat es ihm nach, doch er war so überwältigt von der Pracht, dass er in der Verbeugung verharrte und nicht wagte, den Kopf zu heben. Deshalb sah er nicht, wie der Kaiser eine weiße Hand aus dem weiten, pelzverbrämten Ärmel schob und sie näher zu sich winkte. Erst als Jankel fühlte, wie der Rabbi seinen Arm berührte, richtete er sich auf und folgte ihm, bis er wieder neben ihm ging. Hinter sich hörte er Josefs schwere Schritte.
    »Rabbi Löw«, sagte der Kaiser mit einer wohlklingenden Stimme, die Jankel entgegenschlug wie ein warmer Windhauch, »sagt uns, ist das der Junge?«
    Der Rabbi schob Jankel einen Schritt nach vorn. »Ja, Euer Majestät«, sagte er ehrerbietig. »Ja, das ist Jankel, der Enkel meiner Schwester selig, der seit einigen Monaten in meinem Haus lebt.«
    Jankel hob den Kopf und senkte ihn schnell wieder, als er sah, dass die Augen aller Anwesenden auf ihn gerichtet waren, er meinte die Blicke zu spüren, die ihn von Kopf bis Fuß abtasteten wie neugierige Finger. Am liebsten wäre er im Erdboden versunken und nur mit Mühe unterdrückte er ein Zittern.
    »Ein schöner Junge«, sagte der Kaiser mit dieser Stimme, die Jankel einzuhüllen schien. »Und es fehlt ihm offenbar auch nicht an Mut und Verstand. Ihr könnt stolz auf ihn sein, Rabbi.«
    Jankel stieg das Blut in den Kopf bei diesen Worten, verlegen verneigte er sich.
    »Und Euer Diener?«, fragte der Kaiser weiter.
    Der Rabbi trat einen Schritt zur Seite, um den Blick auf Josef freizugeben, und flüsterte ihm zu: »Verneige dich vor dem Kaiser, Josef.«
    Josef klappte schwerfällig den Oberkörper nach vorn zu einer Verbeugung, die eher aussah, als suche er den Fußboden nach etwas ab, das ihm hinuntergefallen war. Seine Arme hingen hilflos an ihm herab, sein Umhang war aufgesprungen, die etwas zu kurzen Ärmel seiner Jacke zogen sich über den breiten, haarlosen Handgelenken hoch und gaben den Blick auf seine großen Hände frei.
    »Ist er wirklich so stark, wie die Leute erzählen?«, wollte der Kaiser wissen.
    »Euer Majestät«, sagte der Rabbi und

Weitere Kostenlose Bücher