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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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furchterregendes Geheimnis geblieben.
    Er nahm Schwung auf, als er den Scheitelpunkt der Formel erreichte, den Buchstaben genau in der Mitte: das
Aleph
, den lautlosen Laut, der der Beginn aller Schöpfung war. Und dann, als wäre das
Aleph
ein Spiegel, kehrte sich die Formel um, und Schaalman purzelte Buchstabe um Buchstabe auf der anderen Seite hinunter.
    Er näherte sich dem Ende, fast war er da. Er wappnete sich und sprach den letzten Laut –
    –
und plötzlich durchströmte ihn die gesamte Schöpfung. Er war unendlich, er war das Universum, es gab nichts, was er nicht in sich umfasste.
    Doch dann blickte er nach oben und sah, dass er nichts war, eine Milbe, ein bedeutungsloser Punkt unter dem starren Blick des Einen.
    Es dauerte ewig; es war nur ein Augenblick. Schaalman erwachte, blinzelte die Tränen zurück und fuhr sich mit der feuchten Hand über die Stirn. So war es immer, wenn er etwas Neues und Mächtiges ausprobierte.
    Der Mond verschwand aus dem Fenster, nur noch die Gaslaternen verbreiteten weiter ihr gelbliches Licht. Erschöpft sank Schaalman bis zum Morgen in einen traumlosen Schlaf und erwachte erst, als der Lärm im Schlafsaal zu laut war, als dass er ihn noch hätte ignorieren können. Männer zogen sich an für den neuen Tag, glätteten die zerknautschten Federbetten mit der nervösen Höflichkeit von Gästen. Manche beteten neben ihren Betten, Gebetsriemen um die Stirn und den Arm gebunden. Im Flur bildete sich eine Schlange vor dem Bad, jeder Mann hielt verschlafen Seife und Handtuch in der Hand. Schaalman zog sich an und nahm seinen Mantel. Er hatte einen Mordshunger. Unten stellte er fest, dass ihm die Köchin ein paar Scheiben Brot und Marmelade zum Frühstück vorbereitet hatte; er verschlang sie, ohne innezuhalten. Er widerstand dem Impuls, sich die Marmelade von den Fingern zu lecken – die Gewohnheiten eines Lebens als Einzelgänger waren nicht leicht abzulegen –, ging am Aufenthaltsraum vorbei und zur Tür des Wohnheims hinaus. Es war Zeit zu überprüfen, was er erreicht hatte.
    Fünf Stunden später kehrte er niedergeschlagen und wütend ins Wohnheim zurück. Er war durch die gesamte Lower East Side gewandert, an allen Rabbis, Schriftgelehrten, Synagogen und Jeschiwas vorbei, die er finden konnte, und dennoch – nichts. Nichts hatte ihn in eine bestimmte Straße gezogen, er hatte nicht gespürt, dass er vielleicht durch
diesen
Eingang treten oder mit
jenem
Mann dort drüben sprechen sollte. Aber seine Formel war richtig gewesen, davon war er überzeugt!
    Wieder einmal mahnte er sich zur Geduld. Es gab noch private Bibliotheken, die riesige Jeschiwa in der Upper West Side, von der er gehört hatte, ganz zu schweigen von den weltgewandten deutschen Juden in Manhattans Norden – nicht so bewandert in esoterischen Wundern wie ihre russischen und polnischen Verwandten, dennoch könnte er bei ihnen etwas finden. Er würde nicht aufgeben.
    Aber er war nervös. In der Delancey Street war er an einem Trauerzug vorbeigekommen: Der Anzahl der Trauergäste und ihrem beredten Schweigen nach zu urteilen, war eine bedeutende Persönlichkeit gestorben. Höchstwahrscheinlich ein verehrter und geachteter Rabbi, verschieden nach einem langen und friedlichen Lebensabend, seines Platzes in der nächsten Welt sicher. Schaalman war beiseitegetreten, hatte weggeschaut und dem kindischen Drang widerstanden, sich zu verstecken, damit der Todesengel ihn in seinem Versteck unter den New Yorker Juden nicht entdeckte.
    Im Wohnheim blieb er vor der offenen Tür des Direktors stehen. Levy saß an seinem Schreibtisch, anders als sonst schwebte der Stift in seiner Hand reglos über dem Papier. Seine Augen blickten ins Leere. Schaalman runzelte die Stirn. Hatte ihn jemand verzaubert oder verwandelt? War hier eine andere Kraft am Werk? Er klopfte an die Tür. »Michael?«
    Der Mann zuckte schuldbewusst zusammen. »Joseph, hallo. Stehen Sie schon lange hier?«
    »Nein, nicht lange«, sagte Schaalman. »Geht es Ihnen gut? Sie sind doch hoffentlich nicht wieder krank?«
    »Nein, nein. Also, nicht wirklich.« Er lächelte müde. »Eine Angelegenheit des Herzens.«
    »Ah«, sagte Schaalman, und sein Interesse erlosch.
    Doch jetzt sah ihn der Direktor nachdenklich an. »Darf ich Sie etwas Persönliches fragen?«
    Schaalman seufzte lautlos. »Natürlich.«
    »Waren Sie jemals verheiratet?«
    »Nein, dieser Segen wurde mir nie zuteil.«
    »Verliebt?«
    »Natürlich«, log Schaalman. »Welcher Mann in meinem Alter

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