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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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bemüht ausdruckslos. Also war es ein empfindliches Thema. Vielleicht sorgte sie sich, dass sich
sein
Verlangen auf sie richten würde. Aber dem war nicht so, nicht einmal ansatzweise, was wiederum erstaunlich war. Er war nur selten aus einem anderen Grund so lange in Gesellschaft einer Frau gewesen.
    Er mochte sie. Es machte ihm Spaß, sie herumzuführen, vertraute Orte durch ihre Augen neu zu sehen. Ihr fielen andere Einzelheiten auf als ihm: Er nahm eine Landschaft als Ganzes auf, bevor er sich den Details widmete, während sie jedes Element für sich betrachtete und sie erst dann zu einem Bild zusammenfügte. Sie konnte schneller gehen als er, aber normalerweise blieb sie hinter ihm zurück und schaute fasziniert in ein Schaufenster oder auf ein buntes Schild.
    Und zumindest schien sie keine Angst mehr vor ihm zu haben. Als er zum vierten Mal vor ihrer Pension angekommen war, musste er nur Sekunden warten, bis sie neben ihm stand. Und sie hatte aufgehört, sich an seiner Seite auffällig zu verstecken, obwohl sie noch immer die Kapuze aufsetzte, bis sie sich ein paar Blocks von ihrer Pension entfernt hatten.
    Sie gingen weiter im Zickzack nach Nordwesten, wie gewohnt schweigend. Er ärgerte sich mittlerweile über sein Versprechen einen Hut zu tragen. Der Graupel stellte keine Gefahr dar, kaum eine Irritation; der Hut war viel schlimmer. Er hatte ihn von einem Straßenhändler gekauft, ohne ihn zu probieren, ein Fehler, den er nicht noch einmal machen würde. Die billige Wolle kratzte ihn an der Stirn, und dank der Krempe kam er sich vor wie ein Pferd mit Scheuklappen.
    »Hör auf dir immer wieder an den Hut zu fassen«, murmelte der Golem.
    »Ich kann das Ding nicht ausstehen«, sagte er. »Es fühlt sich an, als hätte ich etwas auf dem Kopf.«
    Sie schnaubte. Es war fast ein Lachen. »Du hast ja auch etwas auf dem Kopf.«
    »Du bestehst darauf, dass ich ihn trage. Und es
juckt.
«
    Ärgerlich nahm sie ihm den Hut vom Kopf und zog ein Taschentuch aus dem Ärmel. Sie faltete es auseinander und kleidete den Hut damit aus. Dann setzte sie ihm den Hut wieder auf und schob die Ränder des Taschentuchs unter die Krempe. »Ist das besser?«, fragte sie.
    »Ja«, antwortete er erstaunt.
    »Gut«, entgegnete sie grimmig. »Dann kann ich mich jetzt ja vielleicht darauf konzentrieren, wohin wir gehen.«
    »Ich dachte, du könntest meine Gedanken nicht sehen?«
    »Das war auch nicht nötig. Du hast so an dem Hut herumgefummelt, dass es die ganze Straße hätte sehen können.«
    Sie gingen weiter. Die Temperatur war gesunken, der Graupel ging in Schnee über. Die seit langem verstopften Rinnsteine ließen an jeder Straßenecke einen kleinen Teich entstehen. Sie mussten darum herumgehen, bis der Dschinn sich an einer Ecke umschaute, ob sie allein auf der Straße waren, Anlauf nahm und über die schwarze Wasserlache sprang. Es war eine ziemlich große Distanz; nur wenige Männer hätten es geschafft. Er grinste selbstzufrieden.
    Chava stand stirnrunzelnd an der Ecke. Er wartete ungeduldig, bis sie um die große Pfütze herumgegangen war.
    »Was, wenn jemand dich gesehen hätte?«, fragte sie.
    »Es war das Risiko wert.«
    »Wofür? Für ein paar Augenblicke mehr Zeit?«
    »Es hat mich daran erinnert, dass ich noch am Leben bin.«
    Schweigend gingen sie zum Washington Square Park. Er hatte sich darauf gefreut, ihr den hell erleuchteten Torbogen zeigen zu können, doch das Wetter hatte die Stadt gezwungen, die Lichter auszuschalten, um keinen Kurzschluss zu riskieren, und der Torbogen ragte in die Dunkelheit auf, seine Konturen hart und klar vor den Wolken.
    »Eigentlich sollte er erleuchtet sein«, sagte er enttäuscht.
    »Nein, mir gefällt er so.«
    Sie gingen darunter hindurch, und er wunderte sich wieder einmal über seine Ausmaße. Es gab so viele größere Gebäude in der Stadt, und doch war es der Torbogen, der ihn faszinierte. In der Dunkelheit schienen sich die riesigen Gravuren im Marmor zu verändern und sich wie Wellen zu kräuseln.
    »Er erfüllt keinen Zweck«, sagte er in dem Versuch, sowohl sich selbst als auch ihr seine Faszination zu erklären. »Häuser und Brücken haben einen Nutzen. Aber warum dieser Bogen? Ein gigantischer Torbogen, der nichts verbindet.«
    »Was steht dort oben?« Sie stand auf der anderen Seite und blickte zu der Inschrift empor.
    Er zitierte auswendig: »
›Lasst uns einen Maßstab festlegen, auf den die Weisen und Aufrichtigen sich stützen können. Das Geschehen ist in der Hand

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