Golem und Dschinn: Roman (German Edition)
steinerner Adler saß auf dem Giebel an der höchsten Stelle des Bogens und schaute aus einem kalten Auge auf Schaalman herunter. Beunruhigt verließ Schaalman den Park und kehrte ins Wohnheim zurück, wo er kurz vor Tagesanbruch in sein Bett fiel.
Ein paar Nächte später kehrte er zum Washington Square Park zurück; doch wie bei der Bowery ließ seine Faszination bereits nach. Also marschierte er weiter nach Norden, durch die Seitenstraßen der Fifth Avenue und schnappte hier und da Spuren auf. Er musste sich konzentrieren, denn seine Umgebung lenkte ihn permanent ab, die monumentalen Gebäude aus Granit, die riesigen Glasfenster. Wie konnte eine Straße Meilen über Meilen schnurgerade verlaufen, ohne auch nur einmal eine Kurve zu machen? Das erschien ihm unnatürlich, es war ihm unheimlich.
Schließlich zog ihn der Zauber in einen anderen Park. Er war von Bäumen gesäumt und mit bronzenen Figuren in antiken Gewändern gesprenkelt. Hier und da lagen obdachlose Männer im Gras, doch keiner weckte sein Interesse. Und so kehrte er in tiefer Melancholie versunken ins Wohnheim zurück mit dem Gefühl, erneut Levys Onkel nachzujagen.
Und das war natürlich der andere rote Faden in dem verwirrten Knäuel: die unbekannte Verbindung zwischen seiner Beute und der frisch vermählten Mrs. Levy. Es war seiner Aufmerksamkeit nicht entgangen, dass der Zauber keinerlei Interesse an ihrem Mann hatte. Sie ahmte das Leben einer gewöhnlichen, verheirateten Frau nach; aber führte sie auch noch ein anderes Leben? Das wäre eine Antwort auf die Frage, wie sie die Nächte verbrachte.
Und so folgte er ihr eines Nachmittags von der Bäckerei nach Hause und musste sofort frustriert feststellen, dass der Zauber auch bei ihr nicht mehr anschlug. Konnte es sein, dass ihre Anwesenheit in New York reiner Zufall war? Nein: Sie war zu sehr mit seiner Suche, mit Levy und seinem toten Onkel verflochten. Hier war mehr, er musste es bloß finden.
Trotz ihrer Größe fiel es ihm schwer, sie nicht aus den Augen zu verlieren. Sie bewegte sich schnell durch die Menschenmenge und gab Hausierern und Händlern mit ihren Handwagen kaum eine Chance, sich ihr zu nähern. Sie hielt nur einmal an und betrat einen Gemischtwarenladen, um Mehl und Tee, Faden und Nadeln zu kaufen. Sie plauderte nicht mit der Ladenbesitzerin und sagte nicht mehr als
bitte
und
danke.
Mit ihrem unauffälligen Paket ging sie anschließend schnurstracks nach Hause und verschwand in dem Gebäude.
Vielleicht wäre es ergiebiger, sie abends zu beobachten. Am selben Abend verfolgte er auch Levy, als dieser nach Hause ging. Der Mann machte keine Umwege, aber das war keine Überraschung. Bislang hatte er sich als so interessant wie ein Klinkerstein erwiesen.
Schaalman bezog Stellung im Hauseingang gegenüber, wappnete sich mit einem Zauber, der ihn wach hielt, und bereitete sich auf eine lange Nacht vor. Doch die beiden Levys tauchten erst am nächsten Morgen wieder auf. Michael kam als Erster gähnend aus dem Haus. Seine Frau folgte ein paar Minuten später und schritt forsch Richtung Bäckerei aus. Schaalman hatte nicht viel auf seine Theorie gegeben, dennoch fühlte er sich auf obskure Weise von seinem Geschöpf enttäuscht. Was tat sie die ganze Nacht? Hörte sie ihrem Mann beim Schnarchen zu, während sie im Kerzenschein seine Socken wusch? Am liebsten hätte er sie zusammengestaucht. Der bemerkenswerteste Golem auf der Welt, und sie war es zufrieden, die Hausfrau zu spielen! Aber andererseits entsprach es vielleicht ihrer Natur: Sie brauchte jemanden, der ihren verstorbenen Meister ersetzte, jemanden, dem sie gehorchen konnte.
Er schleppte sich zurück ins Wohnheim. Seine Füße schmerzten; der Kopf tat ihm weh vor Müdigkeit und den Nachwirkungen des Zaubers. Er musste sich ständig daran erinnern, dass er Fortschritte machte, wie unerträglich langsam er auch vorankam. Aber es war zum Wahnsinnigwerden. Er fiel auf sein Bett, ohne sich die Schuhe auszuziehen. Eine Stunde später erwachte er als der harmlose alte Joseph Schall, bereit für seine täglichen Pflichten.
Und der Tag stellte bereits jetzt eine Herausforderung für das Personal des Wohnheims dar. Die Köchin war in der Küche einem Herzinfarkt nahe. Niemand hatte das Schild für den Eisverkäufer ins Fenster gestellt, und jetzt musste sie die Heringe, die für drei Tage reichen sollten, zum Frühstück servieren, oder sie würden ungenießbar. Zudem hatte Shimmels Bäckerei nicht genug geliefert; es fehlten etliche
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