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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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Brötchen für das Abendessen.
    »Ich kann Brötchen kaufen gehen«, sagte Joseph Schall. »Aber vielleicht werde ich sie bei Radzins kaufen.« Er lächelte. »Ich würde gern Mrs. Levy guten Tag sagen.«

    Bei Radzins ging es an diesem Morgen noch hektischer zu als im Wohnheim. Ruby, das neue Mädchen, hatte die falschen Bleche aus dem Ofen genommen, und jetzt waren die Challas nicht durch, und das Gebäck war verbrannt. Die Kunden warteten murrend am Ladentisch, während alle Mitarbeiter versuchten, den Schaden wiedergutzumachen. Da sie die Ungeduld spürte, rollte und schnitt und flocht der Golem, so schnell sie konnte. Sie merkte, wie sie immer gereizter wurde. Warum sollte sie Rubys Fehler ausbaden? Wenn sie in einem vernünftigen Tempo arbeitete und sich nicht darum kümmerte, dass die Kunden sich beschwerten, würde das Mädchen das nächste Mal vielleicht besser aufpassen.
    Sie blickte zu Ruby, die hektisch in einer Schüssel Teig anrührte und sich insgeheim heftige Vorwürfe machte. Der Golem seufzte, enttäuscht von sich selbst. Seit wann war sie so bitter und unbarmherzig?
    Auch die vergangene Nacht war schwierig gewesen. In Sorge wegen ihrer Schlaflosigkeit hatte Michael sie gedrängt, zu einem Arzt zu gehen. Sie hatte ihm versichert, dass sie sich absolut wohlfühlte. Doch sie begriff, dass die einzige Möglichkeit, ihn zu beruhigen, darin bestand, Schlaf vorzutäuschen. Und so hatte sie die ganze Nacht mit geschlossenen Augen und gewissenhaft atmend neben ihm gelegen. Nach ein paar Stunden konnte sie kaum mehr still halten. Sie hatte Krämpfe in den Beinen, und ihre Gedanken waren in Aufruhr. Am liebsten hätte sie ihn wach gerüttelt und ihm die Wahrheit ins Gesicht geschrien. Warum hatte er es noch nicht bemerkt? Wie konnte ein Mann so
blind
sein?
    Und bei Tagesanbruch war er erwacht und hatte sie verschlafen angelächelt. »Du hast geschlafen«, murmelte er. Und sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil er sich so freute.
    Endlich hatte sich die Bäckerei vom morgendlichen Unheil erholt, und die Kunden entspannten sich. Der Golem ging in das Hinterzimmer, um ihr überflüssiges Mittagessen zu holen. Aus der Toilette drangen lautes Schluchzen und eine Flut verzweifelter Gedanken zu ihr. Sie klopfte leise an die Tür. »Ruby?« Schweigen. »Ruby, bitte komm raus. Es ist alles in Ordnung.«
    Die Tür wurde einen Spaltbreit geöffnet; das Gesicht des Mädchens war zu sehen, rot und verquollen. »Nein, ist es nicht. Er wird mich rauswerfen, ich weiß es.«
    »Das wird er natürlich nicht.« Es stimmte; Mr. Radzin war zwar sehr versucht gewesen, war jedoch zu erschöpft, um schon wieder jemanden neu einzustellen. »Er weiß, dass das alles neu für dich ist. Und wir machen alle Fehler, vor allem am Anfang.«
    »
Du
nicht«, sagte Ruby mürrisch. »Du machst
nie
Fehler.«
    Wieder nagte das schlechte Gewissen an ihr. »Ruby, ich habe mehr Fehler gemacht, als ich zählen kann. Aber wenn etwas schiefgeht, hat es keinen Sinn, sich zu verstecken und zu weinen. Du musst daraus lernen und weitermachen.«
    Das Mädchen schniefte zweifelnd, aber dann wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht. »Na gut«, sagte sie leise und verließ den Raum, um sich Mr. Radzins finsteren Blicken zu stellen.
    Der Golem aß ihr Butterbrot mit noch weniger Begeisterung als gewöhnlich. Unterdessen rannte Selma hin und her, holte Eier aus dem Eisschrank und Rollen mit Schnur. Vor einem Jahr noch war sie ein Mädchen mit rundem Bauch und Rattenschwänzen gewesen; jetzt war sie in die Höhe geschossen und stark. Sie hievte sich einen Sack Zucker auf die Schulter und war schon wieder verschwunden. Der Golem sah ihr nach und fragte sich, wie es wäre, eine Tochter zu haben. Sie wusste, dass Mrs. Radzin sich ständig Sorgen um Selma machte und gelegentlich wünschte, die Zeit anhalten und das Mädchen vor der Welt und ihren Enttäuschungen bewahren zu können. Selma dagegen konnte es nicht erwarten, älter zu werden und die geheimnisvollen Erwachsenen um sie herum zu verstehen, ihre geflüsterten Meinungsverschiedenheiten und ihr plötzliches Schweigen.
    Und wo passte sie da hinein?, fragte sich der Golem. Irgendwo zwischen Mutter und Tochter, nahm sie an; nicht länger unschuldig, noch nicht verständig.
    Sie dachte kurz an Michael und wie es ihm wohl im Wohnheim erging. Zweifellos arbeitete er zu hart. Demnächst würde sie sich mittags eine freie Stunde erbeten und ihm einen Teller mit Makronen bringen. Das passte zu einer Ehefrau.

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