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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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sammelte alles, was er zu dem Cintamani finden konnte, gleichgültig, ob es buddhistischen oder hinduistischen Quellen oder der Phantasie eines Geschichtenerzählers entstammte. Die Suche verschlang alles andere, bis er als einsamer Bettler eines Tages mit hohem Fieber in den Ganges watete und ertrank, überzeugt, dass die Flussgöttin Ganga den Cintamani im Wasser für ihn aufbewahrte.
    Und so ging es immer fort. Während der Dschinn in der Flasche weitergegeben wurde, wanderte Ibn Maliks Seele von Körper zu Körper, von einem Erdteil zum anderen. Er nahm als Kreuzritter an der Belagerung Jerusalems teil, um heilige Reliquien zu stehlen. Er war ein Schüler des Paracelsus auf der Suche nach dem Stein der Weisen. Er war ein Shinto-Mönch, ein Maori-Schamane, ein berüchtigter Höfling im Hause Orléans. Er heiratete nie, zeugte nie ein Kind, verliebte sich nie. Vertiefte er sich in eine religiöse Tradition, interessierte er sich am meisten für ihre dunkelsten, mystischen Aspekte; beschäftigte er sich mit Politik, legte er einen unersättlichen Machthunger an den Tag. Sein Leben verlief meist unglücklich und endete nur selten gut. Doch in jedem Leben verzehrte ihn die Suche nach dem Geheimnis des ewigen Lebens – ohne zu ahnen, dass er es bereits besaß.
    Auf diese Weise vergingen Jahrhunderte. Ibn Maliks Seele konnte nicht in die nächste Welt eingehen, solange der Dschinn lebte. Bis schließlich in einem polnischen Schtetl ein plärrendes Baby namens Yehudah seiner Mutter in die Arme gelegt wurde.
     
    Das alles sah der Dschinn.
    Er sah sich selbst, gefangen in der Flasche, heulend vor Seelenqualen.
    Er sah, wie Ibn Malik immer wiedergeboren wurde.
    Er sah Yehudah Schaalman, Ibn Maliks letzte und mächtigste Inkarnation. Er sah, wie der Junge vom Schüler zum Sträfling zum Meister verbotener Magie wurde. Und er sah, wie eines Tages ein einsamer Möbelschreiner an Schaalmans Tür klopfte und einen Golem in Auftrag gab, der seine Ehefrau werden sollte.
     
    Und das alles sah auch Schaalman.
    Er sah seine eigenen Leben aufgereiht wie missgestalte Perlen auf einer endlosen Schnur, die mit Ibn Malik begann und mit ihm selbst endete.
    Er sah die Erinnerungen des Dschinns, erlebte seine Gefangennahme und Unterwerfung. Er sah, wie er in der Werkstatt eines Kupferschmieds aus der Flasche fuhr, er sah das Loch in seinem Gedächtnis, wo das Beduinenmädchen gewesen war. Er sah, wie der Dschinn die Stadt erkundete und sich an seine Situation gewöhnte. Und er sah, wie der Dschinn eines Nachts einer fremden, erstaunlichen Frau begegnete, einer Frau aus Lehm.

Kapitel  26
    J emand schlug dem Dschinn ins Gesicht. Er öffnete die Augen und sah Conroy, der sich über ihn beugte. Blut tröpfelte von Conroys Kopf.
    Es war also real. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Hieb, das erbarmungslose Wissen, was er getan hatte. Er drehte sich auf die Seite und rollte sich ein um den Schmerz, so wie er es vor tausend Jahren auf dem blutverschmierten Boden seines Palastes getan hatte.
    Er hörte Frauen schreien. Es wurde nach der Polizei, nach der Feuerwehr gerufen. »Ahmad«, sagte Conroy drängend. »Komm schon, Junge. Steh auf.« Jemand stöhnte in der Nähe. Der Hexer.
    Der Dschinn stand schwankend auf, taumelte gegen Conroy. Glassplitter fielen klirrend von seiner Kleidung zu den Scherben, die überall auf dem Boden des winzigen Ladens lagen. Der alte Mann war neben einem Regal zusammengesackt, bedeckt mit Glassplittern und Tabak. Der Dschinn packte ihn und zerrte ihn hoch.
    »Lass mich frei!«
, rief er.
    Der Kopf des alten Mannes fiel zur Seite. Es wäre so einfach, ihn umzubringen, eine rasche Bewegung, eine Hand um seinen Hals – ein passendes Ende nach dem, was er Fadwa angetan hatte.
    Doch das Band zwischen ihnen bliebe bestehen; und morgen würde in einem fernen Land ein weiteres Kind geboren werden …
    Mit einem gequälten Schrei ließ der Dschinn Schaalman auf den Boden fallen. Der alte Mann prallte auf den Dielen auf, sein Kopf schlug gegen das Tabakregal.
    Conroy legte ihm die Hand auf den Arm. »Die Polizei wird jeden Augenblick da sein«, sagte er. Sollte es ihm missfallen, dass der Dschinn einen kleinen alten Mann misshandelte, so ließ er es sich nicht anmerken.
    Der Dschinn blickte zu den zerborstenen Fensterscheiben und sah die Menschenansammlung, die in den zerstörten Laden glotzte. Die Prostituierten aus dem ersten Stock waren unterschiedlich leicht bekleidet auf die Straße gerannt. Conroys Männer schirmten

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