Golem und Dschinn: Roman (German Edition)
sich darauf an, doch sie lief nicht an. Tiere schnüffelten an ihr und ließen sie liegen.
In weit entfernten Städten stiegen Kalifen auf und wurden abgesetzt. Heere eroberten die Wüste, machten sich einen Namen und wurden ihrerseits geschlagen.
Eines Tages, lange nachdem die letzten Spuren von Ibn Malik verschwunden waren, hielt der Kundschafter einer Karawane im Schutze eines Felsens an, um sich zu erleichtern. Die Karawane hatte zwanzig Tage zuvor Ramadi verlassen und befand sich auf dem Weg nach al-Scham. Die Aufgabe des Kundschafters war es sicherzustellen, dass unterwegs keine Überraschungen warteten, keine Räuber oder Wegelagerer Geld für eine sichere Passage verlangten. Er trank einen Schluck aus seinem Wasserschlauch und wollte wieder auf sein Pferd steigen, als er etwas aufblitzen sah.
In einer kleinen Mulde lag eine kupferne Flasche auf dem Boden, halb mit Sand und Gestrüpp bedeckt.
Er hob sie auf und wischte den Schmutz ab. Sie war gut gearbeitet und hübsch mit einem interessanten Muster aus Schnörkeln versehen. Vielleicht hatte eine frühere Karawane sie verloren. Sie könnte seiner Mutter gefallen, dachte er, steckte sie in seine Satteltasche und ritt weiter.
Im Lauf der Jahre wurde die Flasche immer weitergegeben, vom Sohn an die Mutter an die Nichte an die Tochter an die Schwiegertochter. Man bewahrte Öl oder Weihrauch darin auf oder nutzte sie einfach zu Dekorationszwecken. Sie bekam ein paar Dellen, erlitt jedoch erstaunlicherweise keinen ernsthaften Schaden. Hin und wieder bemerkte einer ihrer Besitzer, dass sie sich immer warm anfühlte; doch dann vergaß er es wieder, wie man müßige Gedanken stets vergisst. Über Generationen hinweg wurde die Flasche weitergereicht, bis sie schließlich ins Gepäck einer jungen Frau gelangte, die von Beirut nach New York segelte – ein Geschenk ihrer Mutter, das die Tochter an sie erinnern sollte.
Und Ibn Malik?
Du bist an mich gebunden, Feuer an Fleisch, Seele an Seele, besiegelt mit Blut, solange du lebst.
Der Hexer war im Leben schlau und hinterhältig gewesen, doch im Tod hatte er sich selbst ausgetrickst. Seele an Seele waren sie aneinandergebunden, solange der Dschinn lebte. Und der Dschinn lebte, gefangen in der Flasche, ein ganzes Jahrtausend in einem einzigen ewigen Moment.
Was hieß, dass der Tod nicht das Ende von Wahab Ibn Malik al-Hadid war.
Am Morgen, nachdem die Schakale den Leichnam des Hexers bis auf die Knochen aufgefressen hatten, wurde in einer weit entfernten östlichen Stadt namens Chang’an ein Kind geboren. Seine Eltern nannten es Gao. Von Anfang an war Gao ein kluger Junge. Während er heranwuchs, ließ er seine Lehrer rasch hinter sich, die sich alsbald zu sorgen begannen, dass er vielleicht
zu
klug sein könnte; mit dreizehn hatte er mehrere Abhandlungen über die Widersprüche in den hochgeschätzten konfuzianischen Lehren geschrieben und sie für null und nichtig erklärt. Mit zwanzig war Gao ein brillanter, verbitterter Außenseiter. Er ging bei einem Naturheilkundigen in die Lehre und war bald besessen von der Idee, eine medizinische Formel für die Unsterblichkeit zu entwickeln. Er starb mit achtunddreißig aufgrund eines Versehens, als er wieder einmal an sich selbst ein Experiment durchführte.
Am Tag nach seinem Tod wurde in der schwimmenden byzantinischen Stadt Venexia zur großen Freude seiner Eltern ein Baby geboren. Tommaso, so nannten sie den Jungen, erwies sich als so interessiert an der heiligen katholischen Kirche und ihren Mysterien, dass nur die Laufbahn eines Priesters für ihn infrage kam. Er wurde als junger Mann ordiniert und vertiefte sich alsbald in die Politik, sodass er zum spirituellen Berater des Dogen aufstieg. Alle Welt rechnete damit, dass Tommaso sich mit nicht weniger als päpstlichen Würden zufriedengeben würde – bis er eines Abends dabei beobachtet wurde, wie er in den Katakomben der Stadt geheime heidnische Rituale vollführte. Tommaso wurde exkommuniziert, wegen Hexerei verurteilt und im Alter von dreiundvierzig Jahren auf dem Scheiterhaufen verbrannt.
Tommasos Asche schwelte noch in Venexia, als in Varanasi, in Sichtweite des Ganges ein Junge namens Jayatun geboren wurde. Jayatun liebte die Geschichten und Legenden, die er als Junge hörte, insbesondere die des Cintamani, eines berühmten Edelsteins, der seinem Besitzer jeden Wunsch erfüllte – und sogar den Tod abhalten konnte. Als er heranwuchs, wurde aus der kindlichen Faszination eine Obsession, und er
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