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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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Bahnhof in der Grand Street, als ihm bewusst wurde, dass er seit vielen Blocks die immer gleichen Schritte in seinem Rücken hörte. Er wirbelte herum, und eine vertraute Erscheinung studierte die Damenhüte im Schaufenster eines Hutmachers, als würde sie die Sommermode bewundern. Der Dschinn wartete halb amüsiert, bis der Mann sich ihm endlich zuwandte.
    »Ich habe dich besser verfolgen können, als ich noch nicht sehen konnte«, sagte Saleh. »Jetzt lenkt mich alles ab.«
    Der Dschinn musterte ihn. Die Kleidung des Mannes war so zerlumpt wie immer, aber er hielt sich jetzt aufrecht und er hatte etwas Energisches, als würde er die Welt nicht mehr von schräg unten betrachten. »Was ist passiert?«, fragte der Dschinn.
    Saleh zuckte die Achseln. »Vielleicht bin ich einfach von meiner Krankheit genesen.«
    »Es war keine Krankheit.«
    »Dann nennen wir es Verletzung.«
    »Saleh, warum verfolgst du mich?«
    »Ein Mann sucht dich«, sagte Saleh. »Ich glaube, dass er dir Böses will.«
    »Ich weiß«, sagte der Dschinn. »Er hat mich schon gefunden.«
    »Im Tabakladen?«
    »Warst du dort?«
    »Ich hatte Lust auf einen Spaziergang.«
    Der Dschinn schnaubte. »Und wirst du jetzt nach Hause gehen, wo du mir deine verspätete Warnung überbracht hast? Oder willst du mir wie ein Schatten durch die ganze Stadt folgen?«
    »Kommt drauf an. Ist es interessant, wo du hinwillst?«
    Der Dschinn hatte die Fahrt allein machen wollen. Doch jetzt dachte er, dass ihm die Gesellschaft dieses Mannes nicht unangenehm wäre.
    »Erinnerst du dich, als ich dich in der Hochbahn mitgenommen habe?«
    »Nicht gut. In der Nacht war ich nicht in Höchstform.«
    »Dann solltest du mitfahren.«
     
    Der Zug kam quietschend zum Stehen, und Saleh stieg in den nahezu leeren Wagen und schaute sich nervös und aufgeregt um. Der Dschinn, der ihn beobachtete, lächelte. Zweifellos hatte der Hexer etwas mit der Heilung Salehs zu tun, der Entfernung des Funkens aus seinem Kopf; aber er hatte nicht vor, ihn nach Einzelheiten zu fragen. Es war nicht wichtig, solange der Mann ihn nicht aufzuhalten versuchte.
    Sie setzten sich auf eine Bank ganz hinten. Saleh erschrak, als sich der Zug mit einem Ruck in Bewegung setzte. Der Dschinn schaute hinaus auf die vertraute Umgebung, die vorbeiflog, und sah kurze morgendliche Szenen: Kinder, die über Dächer liefen, Paare, die Tee am Fenster tranken. Einmal verzog er bekümmert das Gesicht; er schloss die Augen, lehnte den Kopf zurück.
    »Darf ich fragen, wohin wir fahren?«, wollte Saleh wissen.
    »Zum Central Park«, sagte der Dschinn. »Ich treffe mich dort mit einer Frau.«

    Um vier Uhr morgens war Radzins Bäckerei ein unheimlicher Ort. Der Golem schloss mit dem Schlüssel auf, den Mrs. Radzin ihr für Notfälle gegeben hatte, und verriegelte die Tür hinter sich. Sie kannte hier jeden Zentimeter, hätte das Brot für den Morgen mit geschlossenen Augen backen können; doch in der Dunkelheit wirkte die Bäckerei unheilvoll. Die vertrauten Arbeitstische standen unnahbar wie Grabsteine da. Das Licht der Straßenlampen fiel durch das leere Schaufenster und erhellte geisterhafte Handabdrücke.
    Sie hatte keinen anderen Ort, wohin sie hätte gehen können. In der Wohnung hatte sie nichts mehr zu suchen – und sie durfte nicht riskieren, Michael zu begegnen, nicht in seinem derzeitigen Zustand. Vielleicht würde sie ihn nie wiedersehen. Der Rabbi, der Dschinn, Anna und jetzt Michael, sie alle waren aus ihrem Leben verschwunden.
    Aus der Tasche ihres Umhangs nahm sie das Bündel angekokelter Blätter, das sie von Michaels Schreibtisch mitgenommen hatte. Sie legte es auf den Arbeitstisch und starrte es an. Am liebsten wäre sie so weit wie möglich davor weggelaufen. Sie wollte es in den Ofen werfen und vergessen, dass sie es je gefunden hatte.
    Joseph Schall hatte sie erschaffen.
Wieder sah sie das aalglatte, nahezu stolze Lächeln vor sich, spürte die finstere Leere in seinem Kopf.
    Auch wenn sie die Papiere zu Asche verbrannte, würde sie Rotfelds Einkaufsliste, was seine Ehefrau anbelangte, so schnell nicht vergessen. In gewisser Weise war es erbaulich, die eigenen Ursprünge zu sehen, doch zugleich fühlte sie sich gedemütigt und auf bloße Worte reduziert. Das Ersuchen um anständiges Verhalten zum Beispiel: Es wurmte sie gewaltig, dass sie mehrmals mit dem Dschinn über dieses Thema gestritten hatte, dass sie leidenschaftlich Meinungen vertreten hatte, die sie vertreten musste, weil sie gar keine andere

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