Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
Vom Netzwerk:
seinen Schmerz aus der Welt schaffen? Sie blätterte weiter. Vielleicht könnte sie mit Hilfe des Buchs die Schelle um sein Handgelenk öffnen und ihn von seinen Fesseln befreien. Doch wenn er frei wäre, würde er dann bleiben? Nein, natürlich nicht: Sie hätte ihn für einen winzigen Augenblick wieder, und dann würde er sie und die Stadt verlassen und nach Hause zurückkehren. Der Gedanke zerriss sie. Sie stellte sich vor, wie er durch die Wüste wanderte, immer auf der Suche nach der nächsten Ablenkung. Auch wenn er von seinen Fesseln befreit wäre, fände er keinen Frieden. Er würde seine Sehnsüchte und seine Unzufriedenheit überallhin mitnehmen; in dieser Hinsicht unterschied er sich nicht von allen anderen.
    Doch mit Hilfe der Zaubersprüche könnte sie ihn verändern. Sie könnte bewirken, dass er zufrieden wäre, in New York zu bleiben, zufrieden mit dem Leben eines Menschen. Wäre es nicht ein Akt der Freundlichkeit, der Liebe, den gehetzten Blick aus seinen Augen, die Bitterkeit aus seiner Stimme zu tilgen? Sie würde ihn glücklich machen, wirklich glücklich – wie sie selbst es einst gewesen war …
    Nein.
    Sie warf die Papiere von sich. Sie flogen auseinander, segelten zu Boden und wirbelten kleine Mehlwolken auf.
    Ihre Hochstimmung verflüchtigte sich und ließ sie erschöpft und unglücklich zurück. Sie hätte mit den Zaubereien die ganze Stadt gefesselt, alle zu ihren Golems gemacht, nur um ihr eigenes Bedürfnis, nützlich zu sein, zu erfüllen. Sie hätte dem Dschinn das Wesen geraubt, gründlicher als die Schelle um sein Handgelenk – ihm, der seine Freiheit über alles schätzte.
    Sie hob die Seiten auf und suchte dann im Hinterzimmer nach einem Mehlsack, um sie darin zu verstecken. Ihr Inhalt war viel zu gefährlich, um sich seiner zu bedienen. Wenn sie Joseph Schall entgegentreten musste, würde sie einen anderen Weg finden müssen.
    Jemand klopfte an die Ladentür. Sie ignorierte es – Kunden kamen oft zu früh – und überlegte, was sie als nächstes tun sollte. Sie wollte den Sack verbrennen, bis nichts davon übrig blieb, aber hatte sie das Recht, dieses Wissen zu vernichten, gleichgültig woher es kam?
    Wieder wurde geklopft, diesmal dringlicher. Gereizt ging sie zur Tür und hob die Jalousie an – und sah eine vertraute Gestalt, hochschwanger und in einen billigen, auffälligen Umhang gehüllt.
    »Anna?«, sagte der Golem überrascht.

    Als Saleh und Ahmad in der 57 th Street ausstiegen, hatte der New Yorker Morgen richtig begonnen. Auf der Straße mussten sie einen Hindernislauf zwischen Wagen mit Lebensmitteln und Eisblöcken bewältigen, den ersten Auslieferungen des Tages. Die drückende Hitze hatte nachgelassen; die Pferde schritten kraftvoll aus, und die Männer mit den Zügeln pfiffen schmissige Melodien.
    »Ich erinnere mich an dieses Viertel«, sagte Saleh, als sie die Fifth Avenue überquerten. »Das glaube ich zumindest.« Er gab sein Bestes, um mit dem Dschinn mitzuhalten, der es plötzlich eilig hatte. Er hatte kein Wort mehr zu seiner Verabredung gesagt, und Saleh hatte ihn nicht danach gefragt, denn der herrliche Morgen ließ alles andere unwichtig erscheinen. War der Himmel in Homs jemals so hoch gewesen, so tiefblau? Es war, als würde ihm die Stadt ihren schönsten Morgen darbringen, um all die Jahre wiedergutzumachen, in denen der Himmel grau wie ein angeschlagenes Fünf-Cent-Stück gewesen war. Er erinnerte sich, dass Patienten ihm erzählt hatten, wie sie nach ihrer Genesung die Welt neu zu schätzen wussten, was ihm damals unerträglich rührselig erschienen war. Doch als jetzt ein Blumenmädchen mit einem Korb frischer Blüten an ihnen vorbeiging, ließ ihn ihre zierliche Schönheit nahezu in Tränen ausbrechen.
    Auf der Droschkenstraße gingen sie in den Park. Saleh hörte die Bäume rascheln und spürte die Kühle von Wasser in der Luft. Seit einem Tag hatte er nicht mehr geschlafen und nicht mehr gegessen, doch im Augenblick war seine Müdigkeit unwichtig, er bemerkte sie kaum. Hin und wieder fuhr eine Kutsche an ihnen vorbei, doch für die eigentlichen Ausflügler war es noch zu früh. Die arbeitende Klasse machte sich für den Tag bereit, und die vornehmeren Spaziergänger lagen noch im Bett. Sie hatten den Park mehr oder weniger für sich.
    Der Dschinn blickte zu seinem Gefährten. »Du sagst gar nichts.«
    »Ich genieße den Morgen.«
    Ahmad schaute auf, als nähme er das schöne Wetter zum ersten Mal wahr. Er lächelte nicht, schien sich

Weitere Kostenlose Bücher