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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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wusste, arbeitete er in einem Haus in der Delancey, wo er im Akkord Hosen bügelte. Hoffentlich war er noch da.
     
    Yehudah Schaalman saß an einem Tisch im Aufenthaltsraum des Wohnheims und kritzelte Zeilen auf ein Blatt Papier, die er sofort wieder durchstrich. Die Formel, um einen verlorenen Gegenstand wiederzufinden, sollte leicht zu erinnern sein; er hatte sie Hunderte Mal benutzt. Aber auf sein Gedächtnis war kein Verlass mehr; wenn er zu tief grub, riskierte er, seine früheren Selbst zu wecken, die dann ihre Lösungen lauthals durcheinanderschreien würden, bis er in ihrer Kakophonie ertaubte. Er musste vorsichtig vorgehen, sich an eine Erinnerung anschleichen, sie misstrauisch beäugen, nicht mehr als ein paar Silben der Formel auf einmal einfangen. Es war ein langsamer und mühseliger Prozess, und er war nicht in der Stimmung, sich Zeit zu lassen.
    Im Flur erklang ein entsetzter Schrei. Er ignorierte ihn, ignorierte die lauten Schritte und die zunehmende Aufregung, und versuchte sich zu konzentrieren. Endlich war die Formel, um sein Zauberbuch zu finden, vollständig. Er betrachtete sie – sie schien korrekt –, dann spannte er sich an und sagte sie laut auf.
    Er sah den dunklen Alltagsrock einer Frau, der Bund ausgelassen, damit der Bauch der Frau, die im achten Monat schwanger war, hineinpasste. Sie hatte einen Mehlsack bei sich. Die Frau – und jetzt erkannte Schaalman sie, es war die Frau aus dem düsteren Wohnhaus – stand vor einer offenen Tür und flirtete mit einem pickligen, schwitzenden jungen Mann. Sie kokettierte mit ihm. Der Junge blickte kurz auf ihren Bauch. Er sagte etwas, verlangte etwas. Das Mädchen schien nicht erfreut, aber es nickte. Der Junge nahm eine Schnur ab, die er um den Hals getragen hatte; ein Schlüssel hing daran. Er ließ ihn vor dem Gesicht des Mädchens baumeln; es musste hinauflangen, und er packte es und küsste es grob auf den Mund, dann fasste er nach der Brust des Mädchens. Sie ließ ihn ein paar Augenblicke gewähren, dann stieß sie ihn fest von sich, ihre Miene gelassen: Es war ein Tauschgeschäft, mehr nicht. Der Junge blickte kurz schuldbewusst drein; dann kicherte er und ging ins Haus zurück. Die Tür wurde geschlossen. Sie wirkte einen Moment verloren, dann fasste sie sich wieder. Mit dem Schlüssel und dem Mehlsack in der Hand ging sie die Straße entlang. Schaalman erkannte die Läden, die Straßenecken und wusste, dass sie nur ein paar Blocks von ihm entfernt war. In der Broome Street steckte sie den Schlüssel in das Schloss einer unauffälligen Tür und verschwand im Hausinneren.
    Schaalman kam zu sich, ihm schwindelte. Er saß so still wie möglich da, bis er wieder klar sehen konnte und das Pochen in seinen Schläfen nachgelassen hatte. Das schwangere Mädchen – es kannte seinen Golem. Vielleicht hatte er nicht nur das Zauberbuch, sondern auch einen Köder gefunden, mit dem er das Einverständnis seines Golems erzwingen konnte.
    Im Flur herrschte helle Aufregung. Vor Michaels Bürotür hatte sich eine kleine Menschenmenge versammelt. Die Haushälterin saß schluchzend auf der Treppe. Die Köchin sprach mit einem Polizisten. Sie sah Schaalman und warf ihm einen flehentlichen Blick zu:
Joseph, schau nur, was passiert ist.
Aber er war schon verschwunden, den Flur entlang und zur Tür hinaus.

    Der Hansom der Winstons war zwar elegant, bot aber kaum Platz für drei Personen; dennoch zwängten sie sich hinein, Saleh, der Dschinn und der Golem. Das Pferd trabte flink durch das Tor auf die Park Avenue, nur um wie alle anderen im morgendlichen Verkehr stecken zu bleiben. In die Ecke gequetscht, döste Saleh bald ein. Zuerst kämpfte er dagegen an, aber die Müdigkeit und sein frisch gefüllter Magen – die Köchin hatte ihm einen Teller mit kaltem Fleisch und Fruchtkompott mit Weinbrand hingestellt, auch wenn sie ihm klargemacht hatte, dass das unter ihrer Würde war – gewannen die Oberhand. Der Dschinn war dankbar; so musste er nicht auf die offensichtliche Taktik zurückgreifen, die Sprache zu wechseln, um mit Chava zu sprechen.
    Doch wie es schien, war Chava nicht in der Stimmung, sich zu unterhalten. Zuvor hatte sie überraschenderweise kaum protestiert, als er ihr seinen Plan erklärte, nur ein paar praktische Fragen gestellt und für Sophia ins Englische übersetzt. Jetzt war sie sogar für ihre Verhältnisse auffällig still. Sie schaute auf die Droschken und Fuhrwerke, die um sie herumstanden, ihre Miene wie aus Stein gemeißelt.

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