GOLIATH - Die Stunde der Wahrheit
würden Teile der Seele rauben, und vielleicht hatte sie recht gehabt. Mit sechzehn Bildern in der Minute würde eine Filmkamera dann wie ein Maschinengewehr Stücke von der Seele abschlagen. Möglicherweise lag es ja am Brandy von gestern Abend, aber Alek fühlte sich so hohl wie Mr. Hearsts falsche Gebäude.
Das Luftschiff folgte der kalifornischen Küste bei drei Viertel Kraft voraus nach Süden und arbeitete sich gegen kühle Ozeanwinde voran, die landwärts bliesen. Los Angeles überquerten sie am späten Nachmittag, und ein paar Stunden später fiel Alek auf, dass das Luftschiff nach Südosten drehte. Laut Karte musste es sich bei der ausgedehnten Stadt unter ihnen um Tijuana handeln.
Der plötzliche Lärm von Trompeten und Trommeln übertönte das Brummen der Motoren, und Bovril kletterte auf die Fensterbank. Alek sah hinunter. Dort unten lag ein riesiges Stadion, das bis zum letzten Platz mit jubelnden Zuschauern besetzt war. Ein eigenartiger Bulle mit zwei Köpfen scharrte mit den Hufen im Boden der Arena und nahm den Matador ins Visier, der im schwindenden Licht des Tages kaum zu erkennen war.
Mit dem Luftschiff konnte man zwar schnell reisen, doch, so fiel Alek auf, man verpasste aus der luftigen Höhe von tausend Fuß auch einen großen Teil der Landschaft.
Als es Zeit zum Abendessen war, hüllte sich die Wüste unten bereits in Dunkelheit. Bovril saß immer noch auf der Fensterbank und schaute nach unten. Ohne Zweifel konnte er mit seinen großen Augen auch bei Sternenlicht genug erkennen.
»Meteorisch«, sagte das Tierchen, und Alek runzelte die Stirn. Es war das erste Wort, das Bovril an diesem Tag von sich gab, und bestimmt keins, das Alek je ausgesprochen hatte.
Aber Alek war bereits spät zum Essen dran, daher setzte er sich das Tierchen auf die Schulter und eilte hinaus.
Miss Eierkopf hatte an diesem Abend die Offiziersmesse mit Beschlag belegt, und es würde ohne Frage die erste von vielen langweiligen Dinnerpartys folgen. Angesichts so vieler Zivilisten an Bord drohte sich der Flug der Leviathan in eine Vergnügungskreuzfahrt zu verwandeln. Wenigstens waren heute Abend nur fünf Gäste geladen, und nicht zwei Dutzend, wie bei Hearst.
Deryn wartete an der Tür zur Messe und trug ihre gewöhnliche Dienstuniform. Als Bovril die Pfote nach ihr ausstreckte, zerzauste sie ihm das Fell und öffnete dann mit tiefer Verneigung die Tür. Ein Grinsen huschte über ihr Gesicht, und Alek fühlte sich wegen seines förmlichen Jacketts ein wenig albern, als wären sie Kinder, die Verkleiden spielten.
Die anderen Gäste waren bereits eingetroffen – Graf Volger, Mr. Tesla und die junge Reporterin von Hearsts Zeitung in San Francisco. Dr. Barlow scheuchte die junge Frau vor sich her. Sie trug ein hellrotes Kleid mit Rüschenkragen und eine rosa Straußenfeder schlang sich um ihren rosa Filzhut.
»Durchlaucht, darf ich Ihnen Miss Adela Rogers vorstellen?«
Alek verneigte sich. »Wir hatten gestern Abend schon das Vergnügen, wenn auch nur kurz.«
Miss Rogers reichte ihm die Hand zum Handkuss, und Alek zögerte – gesellschaftlich durfte er sie wohl kaum als gleichrangig betrachten. Amerikaner waren allerdings berühmt dafür, solche Umstände zu ignorieren, daher ergriff Alek ihre Hand und küsste in die Luft.
»Sie haben daneben geküsst«, sagte sie und lächelte verwirrt.
»Daneben?«, fragte Alek.
»Ihre Hand«, sagte Dr. Barlow. »In Europa ist es Sitte, Miss Rogers, dass man nur verheiratete Frauen auf die Haut küsst. Bei jungen Dingern wie Ihnen kann eine Berührung der Haut leicht im Nachhinein zu schmerzlichen Folgen führen.«
Alek hörte Deryn schnauben, doch gelang es ihm, sie nicht zu beachten.
»Jung? Aber ich bin doch schon zwanzig«, sagte Miss Rogers. »Meine Hände wurden schon oft geküsst und dabei noch nie verletzt!«
Dr. Barlows Loris lachte, und Alek hüstelte höflich. »Gewiss.«
»Und einmal war ich schon fast verheiratet«, sagte Miss Rogers. »Aber im letzten Moment ist ein alter Freier aufgetaucht und hat die Heiratserlaubnis zerrissen. Ich glaube, er war immer noch in mich verliebt.«
»Ehrlich?«, brachte Alek mühsam hervor. »Bestimmt war es so.«
»Konnten Sie sich die Heiratserlaubnis nicht neu ausstellen lassen?«, erkundigte sich Miss Eierkopf.
»Vermutlich schon. Doch durch die Unterbrechung bin ich ins Grübeln geraten. Da habe ich mich entschieden, das Schreiben an erste Stelle zu setzen. Einen Ehemann kann man sich ja immer suchen.«
Dr. Barlow
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