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Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra

Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra

Titel: Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Saviano
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Faust, das Gesicht unverhüllt. Im weiteren Verlauf schlossen sich dem Zug weitere Mitglieder an, die mit Gewehren und halbautomatischen Waffen aus ihren Häusern strömten. Eine bewaffnete Demonstration in aller Öffentlichkeit. Vor den Häusern ihrer Gegner, die es gewagt hatten, sich ihrer Vorherrschaft entgegenzustellen, hielten sie an.
    »Kommt raus, ihr Arschlöcher! Zeigt euch ... wenn ihr Mumm habt!«
    Der Umzug dauerte fast eine Stunde, und er verlief völlig störungsfrei. Die Rolläden der Geschäfte und Bars waren langst heruntergelassen. Zwei Tage lang herrschte totale Ausgangssperre. Niemand ging aus dem Haus, nicht einmal, um Brot zu kaufen. Don Peppino begriff, daß er einen Schlachtplan brauchte, eine Strategie, die er öffentlich bekanntmachen mußte. Statt Einzelaktionen, statt persönlicher Zeugenschaft zählte von nun an das organisierte Miteinander. Das betraf auch das Engagement der umliegenden Pfarreien. Don Peppino verfaßte ein fulminantes Schreiben, das von allen Priestern des Sprengeis Casal di Principe unterzeichnet wurde. Einen religiösen, einen christlichen Text, aus dem eine verzweifelte Menschenwürde sprach. Worte von universeller Gültigkeit, die alle konfessionellen Grenzen sprengten und die Bosse bis ins Mark erschütterten. Sie begannen diese Worte mehr zu fürchten als die Razzien der Antimafia-Einheiten, mehr als die Beschlagnahme von Gruben, Steinbrüchen und Betonmischmaschinen, mehr als den Telefonmitschnitt von Mordbefehlen. Don Peppinos Schreiben trug den leidenschaftlichen Titel: »Aus Liebe zu meinem Volk werde ich nicht schweigen«, und er verteilte es am ersten Weihnachtsfeiertag. Er schlug es nicht an seine Kirchentür, er wollte nicht wie Luther die römische Kirche reformieren, er hatte andere Sorgen. Er suchte nach einem neuen Weg, den herrschenden Mächten entgegenzutreten, dem einzigen Weg, um die wirtschaftliche und kriminelle Hoheit der Camorra-Familien ins Wanken zu bringen.
    Don Peppino schlug eine Bresche in das Gestrüpp der Worte, um jene Sätze zu finden, die, klar und deutlich ausgesprochen, auch jetzt noch ihre Kraft entfalten konnten. Ihm fehlte die geistige Trägheit derer, die glauben, das Wort habe seine Kraft längst verloren und sei nur noch in der Lage, den Raum zwischen zwei Trommelfellen auszufüllen. Das Wort, das sich begreifen ließ wie kompakte Materie, deren Energie den Lauf der Dinge verändern kann. Das Wort als Baumörtel, als Spitzhacke. Don Peppino suchte nach einer Sprache, die den Schmutz beseitigte wie ein Eimer Wasser den Dreck auf Fensterscheiben. Das Schweigen im Land der Camorra ist nicht die gewöhnliche Omerta, die Mauer des Schweigens, versinnbildlicht durch gesenkte Blicke im Schatten mafioser Schirmmützen. Hinter diesem Schweigen steckt vielmehr die Haltung: »Das geht mich nichts an.« Hier - aber nicht nur hier - verschließt man sich. Das ist das maßgebliche Votum zum Stand der Dinge. Das Wort mußte zum Schrei werden. Gezielt und treffsicher gegen eine Panzerscheibe geschleudert, um sie zu zertrümmern.
    Ohnmächtig erleben wir den Schmerz vieler Familien, deren Kinder auf leidvolle Weise zu Opfern oder Auftraggebern der Camorra-Organisationen werden. [...] Die heutige Camorra ist eine Form des Terrorismus, sie verbreitet Angst, diktiert ihre eigenen Gesetze und versucht, sich in der Gesellschaft Kampaniens dauerhaft zu verankern. Mit der Waffe in der Hand erzwingen die Camorristen inakzeptable Regeln: Erpressung, die unser Land zum Empfänger von Hilfsgeldern gemacht hat, unfähig zu jeder eigenständigen Entwicklung; Schmiergeldzahlungen von zwanzig Prozent und mehr bei der Vergabe von Bauaufträgen, die selbst den mutigsten Unternehmer zurückschrecken lassen; illegaler Handel und Dealen mit Rauschgift, dessen Konsum junge Leute scharenweise ins soziale Abseits drängt und zu Handlangern der kriminellen Organisationen macht; Auseinandersetzungen zwischen verfeindeten Gruppen, eine verheerende Geißel, von der die Familien hierzulande heimgesucht werden; negative Vorbilder für die Jugend, wahre Brutstätten der Gewalt und des organisierten Verbrechens [.••]
    Don Peppino wollte zuallererst daran erinnern, daß es angesichts der Übermacht der Clans nicht ausreichte, das priester-liche Wirken auf den Beichtstuhl zu beschränken. Er berief sich auf die Bücher der Propheten, um zu betonen, wie notwendig es ist, auf die Straße zu gehen, anzuklagen und zu handeln - unabdingbare Voraussetzung für ein sinnhaftes

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