Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra
Leben in Würde.
Unsere prophetische Verpflichtung zur Anklage darf und kann nicht nachlassen, Gott ruft uns auf, Propheten zu sein. Der Prophet ist Wächter: er sieht die Ungerechtigkeit, prangert sie an und verweist auf den ursprünglichen Plan Gottes (Hesekiel 3,16-18).
Der Prophet erinnert an die Vergangenheit und beruft sich auf sie, um im Gegenwärtigen das Neue zu erkennen (Jesaja 43).
Der Prophet fordert auf, Solidarität im Leiden zu üben, wie er selbst es tut (Jeremia 8,18-23).
Der Prophet verweist auf den Weg der Gerechtigkeit als vorrangige Aufgabe (Jeremia 22,3 und Jesaja 58).
Die Priester, unsere Hirten und Mitbrüder, rufen wir auf, in ihren Predigten und überall, wo ein mutiges Zeugnis gefordert ist, klare Worte zu finden. Die Kirche rufen wir auf, ihre »prophetische« Aufgabe wahrzunehmen, um mit den Mit-teln der Anklage und Warnung im Zeichen der Gerechtig-keit ein neues Bewußtsein für die Solidarität der ethischen und sozialen Werte zu schaffen.
Don Peppino ging es nicht um eine korrekte Haltung gegenüber der politischen Macht. Seiner Ansicht nach wurde die politische Macht nicht nur von den Clans gestützt, sie war auch durch gemeinsame Interessen mit ihnen verbunden. Zugleich warf er einen kritischen Blick auf die sozialen Verhältnisse. Er wollte nicht glauben, daß die Hinwendung zum Clan eine bewußte Entscheidung für das Böse darstellte. Sie war für ihn vielmehr die Folge präzise beschreibbarer Umstände, genau faßbarer Mechanismen und unheilvoller Ursachen. Noch nie hatte die Kirche oder sonst jemand hier in dieser Gegend derart klare Worte gefunden:
Mißtrauen und Argwohn der Menschen im Süden gegenüber den staatlichen Institutionen aufgrund der jahrhundertelangen Unfähigkeit der Politik, die gravierenden Probleme des Mezzogiorno zu lösen, insbesondere in den Bereichen Arbeit, Wohnung, Gesundheit und Bildung; der nicht immer unbegründete Verdacht einer Komplizenschaft zwischen der Camorra und den Politikern, die kriminelle Machenschaften decken und Gefälligkeiten erweisen, um bei den Wahlen unterstützt zu werden oder sogar, um gemeinsame Ziele zu erreichen;
das weitverbreitete Gefühl persönlicher Verunsicherung und ständiger Gefährdung aufgrund des unzureichenden rechtlichen Schutzes von Personen und Gütern, aufgrund schleppender juristischer Verfahren und der Unscharfe der gesetzgeberischen Instrumente [...] oft mit der Folge, daß die Menschen auf die vom Clan organisierte Verteidigung zurückgreifen oder sich unter den Schutz der Camorra stellen;
die diffuse Arbeitsmarktsituation, insofern nicht das Arbeitsamt, sondern die Camorra mit ihrer Klientelwirtschaft in der Lage ist, eine Stelle zu beschaffen; die mangelnde bzw. unzureichende soziale Erziehung, auch im pastoralen Bereich, als könne man mündige Christen heranbilden, die nicht zugleich mündige Menschen und Staatsbürger sind.
Nach einem Angriff auf die Carabinieri-Kaserne in San Cipriano d’Aversa Ende der achtziger Jahre organisierte Don Peppino einen Protestmarsch gegen die Camorra. Ein Überfallkommando hatte die Amtsräume verwüstet und die Carabinieri zusammengeschlagen, weil einige es gewagt hatten einzuschreiten, als zwei Jugendliche beim Kirchweihfest während einer Filmvorführung in Streit gerieten. Die Kaserne von San Cipriano liegt am Ende einer schmalen Straße, die Carabinieri saßen also in der Falle. Die Capizona des Clans mußten die Lage entschärfen; sie waren von den Bossen geschickt worden, um die Carabinieri zu retten. Damals stand noch Antonio Bardellino an der Spitze, und sein Bruder Ernesto war Bürgermeister von Cipriano d’Aversa.
Wir, die Hirten der Kirchen Kampaniens, haben keineswegs nur die Absicht, diese Verhältnisse anzuprangern; im Rahmen unserer Kompetenzen und Möglichkeiten möchten wir vielmehr helfen, diesen Zustand zu überwinden, nicht zuletzt mittels einer Überprüfung der pastoralen Inhalte und modifizierter Handlungsstrategien.
Don Peppino begann, die Frömmigkeit der Bosse in Zweifel zu ziehen und nachdrücklich zu bestreiten, daß christlicher Glaube mit der ökonomischen, militärischen und politischen Macht der Clans vereinbar sei. Im Land der Camorra sieht man in den camorristischen Machenschaften keinen Widerspruch zur christlichen Botschaft. Nach camorristischem Selbstverständnis kommen alle Aktivitäten letztlich allen Mitgliedern zugute. Aus Sicht der Clans respektiert und befolgt die Organisation das Gebot der christlichen
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