Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra
Nächstenliebe. Feinde und Verräter zu töten gilt als ein notwendiger und legitimer Regelverstoß. Das Gebot »Du sollst nicht töten« kann dann außer Kraft gesetzt werden, wenn dem Mord ein höheres Ziel zugrunde liegt, sei es die Rettung des Clans, die Wahrung der Interessen seiner Führung oder das Wohl der Gruppe und somit aller. Töten als eine Sünde, die von Christus als notwendiges Übel verziehen wird.
In San Cipriano d’Aversa praktizierte Antonio Bardellino noch das Zeremoniell der pungitura (»Stich«}, wie es auch die Cosa Nostra kennt, eines jener Rituale, die immer mehr in Vergessenheit geraten. Dabei stach man den Aufnahmewilligen mit einer Nadel in den Zeigefinger der rechten Hand und ließ das Blut auf ein Bild der Madonna von Pompeji tropfen, das anschließend über einer Kerze verbrannt und von einem Clanführer zum anderen weiter gereicht wurde. Die Clanführer standen um einen Tisch herum, und nachdem alle das Madonnenbild geküßt hatten, war der Neuling offiziell in den Clan aufgenommen. Die Religion stellt für die Camorra einen wichtigen Bezugspunkt dar; nicht nur als abergläubische Beschwörung oder kulturelles Relikt, sondern als eine spirituelle Kraft, welche die persönlichsten Lebensentscheidungen durchdringt. Die Camorra-Familien und besonders die zumeist charismatischen Bosse sehen ihr Handeln oft als einen Leidensweg; sie nehmen den Schmerz und die Last der Sünde auf sich zum Wohl der Gruppe und derjenigen, über die sie herrschen.
In Pignataro Maggiore ließ der Lubrano-Clan ein Madonnenfresko restaurieren, die »Camorra-Madonna«, so genannt, weil die wichtigsten aus Sizilien nach Pignataro Maggiore geflüchteten Cosa-Nostra-Bosse Beistand von ihr erbaten. Man kann sich unschwer vorstellen, wie Toto Riina, Michele Greco, Luciano Liggio oder Bernardo Provenzano auf dem Bänkchen vor dem Fresko der Madonna knieten und um Erleuchtung und Schutz flehten.
Nach seinem Freispruch organisierte Vincenzo Lubrano eine Wallfahrt nach San Giovanni Rotondo mit mehreren Bussen, um Padre Pio zu danken, der ihn, wie er glaubte, gerettet hatte. Lebensgroße Statuen von Padre Pio, Terrakotta-und Bronzekopien der Christusfigur, die mit ausgebreiteten Armen auf dem Zuckerhut über Rio de Janeiro thront, stehen in vielen Villen von Camorra-Bossen. In den Drogenlabors und -depots von Scampia werden in einem Arbeitsgang oft genau dreiunddreißig Plastikbeutel Haschisch für den Verkauf bereitet, eine Zahl, die dem Alter Christi entspricht. Nach einer dreiunddreißigminütigen Pause bekreuzigt man sich und fährt dann mit der Arbeit fort. Eine Art fromme Huldigung, verbunden mit der Bitte um profitable und ruhige Geschäfte. Dasselbe Ritual gilt für das Kokain. Der Capozona besprengt die Plastiktütchen häufig mit Lourdes-Wasser, bevor sie an die Pusher gehen, und verbindet damit die Hoffnung, daß durch den Konsum der Droge niemand zu Tode kommt. Schließlich wird er persönlich zur Verantwortung gezogen, wenn der Stoff von schlechter Qualität ist.
Das System Camorra beansprucht nicht nur die Verfügungsgewalt über Leib und Leben, sondern auch über die Seele. Don Peppino fand klärende Worte auch zum Inhalt und Geltungsbereich bestimmter grundlegender Werte:
»Familie« nennt die Camorra einen mit verbrecherischen Absichten gegründeten Clan, in dem die absolute Treue Gesetz und eigenständige Entscheidungen ausgeschlossen sind und nicht nur Verrat, sondern auch die Rückkehr zu ehrenhaftem Verhalten als todeswürdiges Vergehen angesehen wird. Die Camorra versucht mit allen Mitteln, dieses Modell einer »Familie« zu verbreiten und zu etablieren und bedient sich dazu sogar der kirchlichen Sakramente. Für einen Christen, der dem Wort Gottes folgt, ist jedoch die »Familie« nichts anderes als eine in Liebe geeinte Gemeinschaft von Menschen, die in selbstlosem und fürsorglichem Dienst füreinander eintreten, einem Dienst, der den Gebenden und den Empfangenden adelt. Die Camorra beansprucht eine eigene Religiosität, und bisweilen gelingt es ihr sogar, nicht nur die Gläubigen, sondern auch ahnungslose oder arglose Seelenhirten zu täuschen.
Eingehend behandelt Don Peppino in seinem Schreiben auch die Sakramente. Er verwahrt sich entschieden dagegen, die Kommunion, die Rolle des Paten und die kirchliche Eheschließung für camorristische Praktiken zu instrumentalisieren. Jeglicher Indienstnahme der religiösen Symbolik für die Zwecke der Clans müsse kategorisch entgegengetreten werden,
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