Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra
oder in die Tanzstunde. Hier ist es nicht so. Der Herrgott wird berücksichtigen, daß ein fünfzehnjähriger Junge den Fehler begangen hat. Wenn fünfzehn Jahre in Süditalien genug sind, um zu arbeiten, einen Raubüberfall zu planen, zu töten und getötet zu werden, dann sind sie auch genug, um die Verantwortung dafür zu übernehmen.«
Dann sog der Pfarrer tief die schlechte Luft der Kirche ein: »Aber fünfzehn Jahre sind so wenig, daß sie uns besser erkennen lassen, was dahinter steht, und sie verpflichten uns, die Verantwortung zu verteilen. Fünfzehn Jahre sind ein Alter, das an das Gewissen derer klopft, die von Legalität, Arbeit und Engagement schwadronieren. Kein Klopfen mit Knöcheln, sondern ein Kratzen mit Krallen.«
Der Pfarrer beendete seine Predigt. Niemand verstand genau, worauf er hinauswollte, und es waren auch weder Vertreter des Staates noch anderer Institutionen anwesend. Die Jugendlichen machten immer mehr Lärm. Von vier Männern getragen, verließ der Sarg die Kirche. Plötzlich aber lag er nicht mehr auf den Schultern, sondern schwebte über der Menge. Alle hielten ihn mit der Handfläche in die Höhe, wie einen Rockstar, der sich von der Bühne in die Zuschauermenge katapultiert hat. Der Sarg schwamm auf einem See aus Fingern. Ein Begleitzug von Motorradfahrern versammelte sich um den langen Leichenwagen, der bereit stand, um Manu auf den Friedhof zu fahren. Mit angezogener Bremse drückten sie aufs Gas. Das Aufheulen der Motoren gab Emanuele das letzte Geleit. Mit quietschenden Reifen und knatterndem Auspuff schienen sie ihn auf ihren Motorrädern bis zu den Pforten des Jenseits eskortieren zu wollen. Dichter Qualm und beißender
Benzingestank erfüllte in kurzer Zeit die Luft und setzte sich in den Kleidern fest. Ich versuchte in die Sakristei zu kommen, denn ich wollte mit diesem Priester sprechen, der so glühende Worte gewählt hatte. Eine Frau kam mir zuvor. Sie wollte zum Ausdruck bringen, daß der Junge es im Grunde nicht anders gewollt hatte, daß ihm seine Familie nichts beigebracht hatte. Dann bekannte sie stolz: »Meine Enkel würden nie einen Überfall begehen, obwohl sie arbeitslos sind ...«
Und nervös fuhr sie fort: »Aber was hatte dieser Junge denn gelernt? Nichts?«
Der Priester hielt den Blick gesenkt. Er trug noch die Soutane, versuchte nicht, zu antworten, sah sie nicht einmal an und murmelte, weiter seine Turnschuhe fixierend: »Es ist eben so, daß man hier nur sterben lernt.«
»Was, Padre?«
»Nichts, Signora, nichts.«
Aber nicht alle liegen unter der Erde. Nicht alle sind im Sumpf der Niederlage versunken. Bis jetzt. Es gibt noch einige erfolgreiche Fabriken. Sie sind so stark, daß sie der chinesischen Konkurrenz die Stirn bieten können, denn sie arbeiten für die großen Stilisten. Schnelligkeit und Qualität. Höchste Qualität. Sie besitzen noch immer das Monopol, die schönsten und besten Modelle zu schneidern. Das Made in Italy wird hier gemacht. Caivano, Sant’Antimo, Arzano und all die anderen Orte im kampanischen Las Vegas. »Das Gesicht Italiens in der Welt« hat die Züge eines über den bloßen Schädel der Provinz von Neapel ausgebreiteten Stoffes. Die Markenfirmen wagen nicht, alles im Osten oder in Asien produzieren zu lassen. Die Fabriken hier sind in Räumen unter der Treppe und im Erdgeschoß von Reihenhäuschen untergebracht. In Fertigungshallen an der Peripherie dieser Orte der Peripherie. Hier wird gearbeitet, genäht, Leder zugeschnitten, werden Schuhe gefertigt. Hintereinander, der Rücken des Kollegen vor deinen Augen und dein Rücken vor denen des nächsten. Ein Arbeiter in diesen Textilindustrien arbeitet ungefähr zehn Stunden pro
Tag. Die Löhne liegen zwischen fünfhundert und neunhundert Euro. Überstunden werden oft gut bezahlt. Manchmal sogar fünfzehn Euro mehr als der übliche Stundenlohn. Selten haben die Betriebe mehr als zehn Arbeiter. In den Arbeitsräumen steht meist ein Radio oder ein Fernseher auf einem Wandbrett. Man hört Musik, höchstens summt einmal jemand vor sich hin. Aber wenn die Produktion auf Hochtouren läuft, schweigen alle, und nur das Rattern der Nähmaschinen ist zu hören. Mehr als die Hälfte der Arbeiter sind Frauen. Sie sind geschickt und praktisch vor den Nähmaschinen geboren. Eigentlich gibt es hier weder Fabriken noch Arbeiter. Wenn diese hohe Qualitätsarbeit nach normalen Tarifbedingungen abgegolten würde, müßten die Preise steigen, die Ware fände keine Abnehmer mehr, und die
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