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Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra

Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra

Titel: Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Saviano
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abgeliefert hat. Die anderen können die Stoffe behalten, bekommen aber keinen Cent. Die Modefirmen verdienen so viel, daß es ihnen nichts ausmacht, Stoff zu opfern. Wenn einer der Bieter mehrmals nichts liefert und so die Auktion bloß nutzt, um kostenlos an Material zu kommen, wird er nicht mehr zugelassen. Die Vermittler für die Modehäuser erreichen durch diese Form der Auktion, daß schnell produziert wird, denn wenn einer versucht, den Liefertermin zu verschieben, tritt ein anderer an seine Stelle. Für die Haute Couture sind Verzögerungen nicht hinnehmbar.
    Zur Freude der Frau hinter dem Pult erhob sich ein weiterer Arm. Ein ausgesprochen elegant gekleideter Unternehmer.
    »Zwanzig Euro in fünfundzwanzig Tagen.«
    Schließlich wurde dieses Gebot angenommen. Von den zwanzig Anwesenden schlossen sich nur neun an. Auch Xian wagte den Versuch nicht. Er konnte nicht zusagen, in so kurzer Zeit zu so niedrigen Preisen Qualitätsarbeit zu liefern. Am Ende vermerkte die Frau auf ihrem Laptop Namen, Adressen und Telefonnu mm ern der beteiligten Fabriken. Der Gewinner lud alle zum Essen bei sich zu Hause ein. Sein Unternehmen war im Erdgeschoß; im ersten Stock wohnte er mit seiner Frau, im zweiten Stock sein Sohn. Stolz erzählte er: »Jetzt beantrage ich die Genehmigung, um noch ein Stockwerk draufzusetzen. Mein zweiter Sohn will heiraten.«
    Auf dem Weg nach oben erzählte er von seiner Familie, an der er weiterbaute wie an seinem Haus.
    »Laßt die Arbeiterinnen nie von Männern beaufsichtigen, das bringt nur Ärger. Zwei Söhne habe ich, und alle beide haben Näherinnen von uns geheiratet. Laßt es Tunten machen. Tunten sollen die Schichten regeln und die Arbeit kontrollieren, so wie früher ...«
    Die Arbeiterinnen und Arbeiter kamen herauf, um auf den Zuschlag anzustoßen. Ihnen stand harte Schichtarbeit bevor: von sechs bis einundzwanzig Uhr mit einer Stunde Mittagspause, und eine zweite Schicht von einundzwanzig Uhr abends bis sechs Uhr morgens. Die Arbeiterinnen waren alle geschminkt, trugen Ohrringe und Kittel als Schutz vor Klebstoff, Staub und Maschinenfett. Wie Superman, der unter seinem Hemd schon sein blaues Trikot trägt, waren diese Mädchen, wenn sie ihre Schürze ablegten, bereit um Auszugehen. Die Arbeiter dagegen sahen ziemlich schlampig aus in ihren Fleecehemden und Arbeitshosen. Nach dem Toast zog sich der Hausherr mit einem der Gäste zurück. Diejenigen, die den gebotenen Preis akzeptiert hatten, schlossen sich an. Sie versteckten sich nicht, sondern respektierten lediglich die alte Regel, daß bei Tisch nicht über Geld geredet werden darf. Xian erklärte mir genau, wer der besondere Gast sei. Er sah genau so aus, wie man sich den Kassierer einer Bank vorstellt.
    Er mußte Geld vorstrecken und diskutierte über den Zinssatz. Aber er vertrat keine Bank. Die italienischen Modefirmen zahlen erst bei Lieferung der fertigen Arbeit, ja erst, wenn die Qualität geprüft ist. Das Geld für Löhne, Produktionskosten, ja sogar für den Versand muß von den Herstellern selbst finanziert werden. Innerhalb ihres jeweiligen Einflußgebietes gewähren die Clans den Fabriken Kredite. In Arzano sind es die Di Lauro, in Sant’Antimo die Verde, in Crispano die Cennamo und so weiter. Die Camorra schießt zu einem Zinssatz von nur zwei bis vier Prozent Geld vor. Eigentlich wären diese Unternehmen prädestiniert dafür, Bankkredite zu bekommen: sie produzieren für das Aushängeschild der italienischen Wirtschaft, für den Markt der Märkte. Aber sie arbeiten im Untergrund, und Gespenster werden von Bankdirektoren nicht empfangen. Geld von der Camorra ist auch die einzige Möglichkeit für die Arbeiter, einen Kredit zu erhalten. In Gemeinden, in denen mehr als vierzig Prozent der Bewohner von Schwarzarbeit leben, schaffen es auf diese Weise sechs von zehn Familien, eine eigene Wohnung zu kaufen. Auch die Unternehmer, die die von den Modefirmen verlangten Standards nicht schaffen, finden ihre Abnehmer. Sie verkaufen diese Ware an die Clans für den Markt der Fälschungen. Die Mode der Laufstege, der Glanz aller Modeschauen nimmt von hier seinen Ausgang. Aus der Provinz Neapel und aus dem Salento, dem Absatz des italienischen Stiefels, den wichtigsten Zentren der schwarzen Textilindustrie. Die Orte von Las Vegas bis »dintra lu Capu«, bis zum Cap di Leuca. Casarano, Tricase, Taviano, Melissano oder Capo di Leuca im südlichen Salento. Von hier kommen sie, aus diesem Loch. Der Ursprung aller Waren ist dunkel.

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