Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra
Aufträge würden nach außerhalb Italiens vergeben. Die Unternehmer dieser Gegend kennen diese Logik in- und auswendig. In den Fabriken gibt es selten Spannungen zwischen Arbeitern und Arbeitgebern. Hier ist der Klassenkampf weich wie ein Milchbrötchen. Der Chef war oft selbst Arbeiter und arbeitet mit den anderen im selben Raum, am selben Tisch. Wenn er einen Fehler macht, bekommt er in Form von Hypotheken und Krediten sofort die Quittung präsentiert. Seine Autorität hat die Züge des Patriarchen. Man streitet über einen zusätzlichen Urlaubstag oder ein paar Cent Lohnerhöhung. Es gibt weder Verträge noch bürokratische Regeln. Von Angesicht zu Angesicht werden Zugeständnisse und Verpflichtungen festgelegt, die vage an Rechte und Befugnisse erinnern. Die Unternehmerfamilie wohnt im Stockwerk über dem Arbeitsraum. In diesen Fabriken vertrauen die Arbeiterinnen ihre Kinder oft den Töchtern der Unternehmer an, die als Babysitter fungieren, oder den Müttern, die dann zu Ersatzgroßmüttern werden. Die Kinder der Arbeiterinnen und der Unternehmerfamilien wachsen gemeinsam auf. Daraus entsteht ein Gemeinschaftsleben, es verwirklicht sich der Traum der post-fordistischen horizontalen Gesellschaft - Arbeitne hm er und Arbeitgeber sollen gemeinsam ihre Mahlzeiten einnehmen, private Kontakte haben und sich als Teil derselben Gemeinschaft fühlen.
In diesen Fabriken hält niemand den Blick gesenkt. Alle wissen, daß sie hervorragende Arbeit leisten, und sie wissen auch, daß sie dafür miserabel bezahlt werden. Aber das eine geht nicht ohne das andere. Man arbeitet, um so gut wie möglich über die Runden zu kommen, so gibt es keinen Grund, rausgeschmissen zu werden. Es existiert kein soziales Netz. Keine verbrieften Rechte, keine zulässigen oder unzulässigen Entlassungsgründe, Sonderregelungen, Urlaubsansprüche. Sein Recht muß jeder selbst durchsetzen. Ferien muß man erbetteln. Doch es gibt keinen Grund zum Jammern. Alles geschieht, wie es geschehen muß. Hier zählen nur physische Existenz, Geschicklichkeit, Maschine, Lohn. Darüber, wie viele Schwarzarbeiter in dieser Gegend tätig sind, liegen keinerlei gesicherte Daten vor. Und ebensowenig weiß irgend jemand, wie viele Menschen hier normale Arbeitsverträge haben, aber jeden Monat den Erhalt von Lohnsummen quittieren müssen, die sie nie erhalten.
Xian sollte an einer Auktion teilnehmen. Wir betraten die Aula einer Grundschule ohne Schüler, ohne Lehrerin. Nur die auf riesigen Buntpapieren aufgemalten Buchstaben des Alphabets hingen an der Wand. Etwa zwanzig Vertreter von Fabriken saßen herum, Xian war der einzige Ausländer. Er begrüßte nur zwei der Anwesenden und auch sie ziemlich zurückhaltend. Ein Wagen hielt im Schulhof. Drei Personen kamen herein. Zwei Männer und eine Frau. Die Frau trug einen Lederrock und hochhackige Lackschuhe. Alle erhoben sich, um sie zu begrüßen. Die drei setzten sich und begannen mit der Versteigerung. Einer der Männer zog drei senkrechte Striche auf die Tafel und schrieb, was ihm die Frau diktierte. In der ersten Reihe stand:
»800«
Das war die Zahl der herzustellenden Kleidungsstücke. Die Frau beschrieb Stoffarten und Merkmale der Modelle. Ein
Unternehmer aus Sant’Antimo trat ans Fenster und nannte mit dem Rücken zu den Anwesenden seinen Preis und den Liefertermin:
»Vierzig Euro pro Stück in zwei Monaten ...«
Auf der Tafel wurde sein Gebot festgehalten.
»800/40/2«
Die Gesichter der anderen Unternehmer zeigten keine Beunruhigung. Der Bieter hatte sich nicht in den Bereich des Unmöglichen vorgewagt. Und das gefiel allen anderen offensichtlich. Doch die Auftraggeber waren nicht zufrieden. Die Auktion ging weiter.
Die Auktionen der großen italienischen Modehäuser an diesen Orten folgen seltsamen Regeln. Niemand verliert, und niemand gewinnt dabei. Es geht darum, teilzunehmen. Einer legt ein Gebot vor und diktiert damit den Termin und den Preis, der machbar ist. Falls sein Vorschlag aber angenommen wird, ist er nicht der sichere Gewinner. Sein Gebot ist eine Zielvorgabe, die auch die anderen Unternehmer anpeilen können. Wenn ein Preis von den Vermittlern angenommen wird, können die anwesenden Unternehmer entscheiden, ob sie teilnehmen wollen oder nicht; wer annimmt, erhält das Material. Den Stoff, der direkt zum Hafen von Neapel geschickt und dort von den Unternehmern abgeholt wird. Doch nur ein Hersteller wird am Ende bezahlt. Derjenige, der als erster die Modelle in allererster Qualität
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